„Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow an der Schaubühne Berlin, Regie Peter Stein

 

 

 

Ende einer Epoche

 

 

In der Berliner Schaubühne beginnt Anton Tschechows Komödie „Der Kirschgarten" in Düsternis. Mattgrau schimmert die Morgendämmerung hinter geschlossenen Vorhängen. Regisseur Peter Stein und sein Bühnenbildner Christophe Schubiger waren um eine möglichst authentische Inszenierung bemüht. Das ist selten geworden im Theater.

Die Premiere im Juni 1989 konnte ich damals noch nicht sehen. Die Wiederaufnahme jetzt beeindruckt durch ein bestrickendes Wirklichkeits-Fluidum, das mit dem Begriff Naturalismus nur vage erfaßt wäre.

Das ist ein vielschichtiges, ästhetisch genau gegliedertes Bühnenleben. Der Regisseur drängt sich interpretatorisch nicht vor, sondern sucht die Bilder Tschechows, deren Oberfläche wie deren Tiefen und Schattierungen. Er entdeckt die Stimmungen, die Melodien der Szenen. Er erspürt russische Mentalität. Er ist kaum vordergründig komisch. Dabei ist er fast zu gründlich im Ausführlichen, zu verliebt ins beredte Detail.

Wenn nach viereinhalb Stunden minutiösen Spiels der uralte Diener Firs (Branko Samarovski) im verlassenen Haus Schrittchen für Schrittchen von Tür zu Tür schlurft, sich schließlich ermattet niedersetzt, draußen die Lopachinschen Holzfäller den Kirschgarten zu roden beginnen und ein Baum krachend das Fenster durchschlägt, dann hat der Zuschauer natürlich längst begriffen.

Eine Epoche geht zu Ende, eine von den Betroffenen, der Herrin Ranewskaja, ihren Angehörigen und den Dienern, unterschiedlich erlebte Zeit. Mag man sich nun neuerdings streiten, ob die Gutsbesitzergesellschaft tatsächlich am Ende ist oder heutzutage gar wieder auflebt — hier 1904 bei Tschechow (in der Kunst) ist sie nicht mehr zu retten.

Doch da ist nicht nur die konkrete soziale Definition. Tschechows realistisches Erfassen gesellschaftlicher Veränderung, wenn auch gleichsam nur in markanten Augenblicken, weitet sich ins poetische Symbol: Kirschgärten, die ins Konzept neu zur Macht Kommender nicht passen, werden erbarmungslos abgeholzt. Wie hier von Kaufmann Lopachin ohne glaubwürdige Begründung.

Und die Menschen, die ihr Schicksal kaum begreifen, sind demütigender Abwicklung ausgeliefert. Daher Schmerz, Rührung, Wehmut, Sentimentalität. Kein Protest.

Trofimow, der ewige Student, gern forsch rebellisch gespielt, ist bei Udo Samel ein schon gereifter Intellektueller, der sich wohl oder übel ins Dasein fügt. Seine Erklärungen gibt er nicht in aufmüpfiger Hoffnung, sondern mit hinnehmender Einsicht. Und seine Liebe zur Ranewskaja ist ohne Glut, im Grunde schon verloschen, nur noch romantische Sehnsucht.

Die Gutsbesitzerin Jutta Lampes ist eine verspielte Schönheit. Im zweiten Akt thront sie auf einem Heuhaufen wie eine verwunschene Prinzessin, die ihren Pariser Liebhaber herbeisehnt, um erlöst zu werden. Der Tod ihres Kindes bewegt sie noch immer mehr als die Auflösung des Gutes. Sie hat einfach keine Sinne für soziale Prozesse.

Wie ihre Angehörigen: Warja (Dörte Lyssewski), die barmende Pflegetochter. Anja (Naomi Krauss), die blutjung-ahnungslose Tochter. Gajew (Peter Simonischek), der versponnene Bruder. Selbst Lopachin (Michael König), der Bauernsohn und triumphierende Kaufmann, handelt eher wie vom Leben getrieben, denn mit raffgierigem Kalkül.

In der Ferne droht rotglühend im Dunst die gigantische Industriestadt. Nur einen beunruhigenden Moment wird sie sichtbar. Fast Zukunft noch bei Tschechow. Bedrückende Gegenwart heute.

Die Zeichen des Theaters sind multipler denn je.

 

 

Neues Deutschland, 8. Februar 1991