„Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow am
Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter
Unterhaltsamer Theaterabend mit hervorragenden Schauspielern
Aufgeregt stürzt Dunjascha, das Dienstmädchen, vor den Vorhang, lauscht in den nachtdunklen Kirschgarten, seufzt matt. Schmunzeln im Zuschauerraum. Jetzt tappt schlaftrunken Lopachin heran, der Kaufmann, gähnt herzhaft. Die ersten Lacher, zustimmend, erwartungsvoll. Eine Komödie hat begonnen ...
Eine Komödie? Gerade darin waren sich Anton
Tschechow und Konstantin Stanislawski durchaus nicht einig. Der Dichter hatte
sein letztes dramatisches Werk, seinen 1903 vollendeten „Kirschgarten",
eine Komödie genannt und stellenweise gar als Farce gesehen. Der Regisseur des
Moskauer Künstlertheaters aber beschwor die Tragödie. Tschechow, scheint mir,
war der gnadenlosere Realist. Er verabschiedete die alte Klasse der
Gutsbesitzer und deren Lebenslüge, indem er auf das Komische wies.
Tschechow hatte es stets beunruhigt, daß er „ja
doch die wichtigsten Fragen nicht zu beantworten" wußte .Er ahnte kaum die
revolutionäre Kraft der Arbeiterklasse, konnte sich da nicht Antwort holen. Aber
er hielt sich an die menschliche Kraft der Arbeit. Nicht zufällig bekennen sich
viele seiner Figuren zum Nutzen und zum Wert der Arbeit, zum Fortschritt. „Von
Jugend auf", so Tschechow, „habe ich an den Fortschritt geglaubt.
Nüchterne Überlegung und Gerechtigkeit sagen mir, daß in der Elektrizität und
im Dampf mehr Liebe zum Menschen liegt als in der Keuschheit und im
Fasten." Ein Mann der Zuversicht, dieser Anton Pawlowitsch, der Liebe zu
den Menschen. So getreu er sozialen Gram seiner Epoche gestaltete, er wollte kein
Greiner sein, kein Klageweib.
Regisseur Friedo Solter folgt in seiner
Inszenierung dem Dichter. Über hervorragende Schauspielkunst, über abgestuften,
auch forcierten psychologischen Realismus funktioniert die Komödie, stellt sich
lebendige Kommunikation her mit Gestalten und Schicksalen aus dem Rußland von
1880/ 90. Dies nicht nur, weil oft vorn an der Rampe gespielt wird und die
Figuren, wenn sie ihre Sehnsüchte äußern, ins Publikum sprechen. Dies vor
allem, weil Solter Tschechows Menschen mit nervig-vitaler Hand durchweg lebenskräftig
modelliert.
Diese Herrschaften sind nämlich keineswegs
trübsinnige Leute. Onkel Gajew vielleicht ausgenommen. Das sind noch immer
stolze Vertreter ihrer Klasse, Ranjewskaja, die Gutsbesitzerin, insbesondere —
einer Klasse freilich, deren Uhr abgelaufen ist. Sie handeln klassenborniert
und insofern komisch.
Wenn diese verschuldeten Eigentümer mit
selbstbewußter Engstirnigkeit um ihren Besitz bangen, um das elterliche Herrenhaus,
um den blühenden Kirschgarten und sich aufgescheucht und auch trotzig an ihr
Zuhause klammern, dann besteht — im Sinne großartiger Komödie — durchaus Anlaß,
dies soziale Milieu auch zu zeigen. Solch dienende Werktreue findet indessen
nicht statt. Bei Gabriele Koerbl, als Gast verantwortlich für das Bühnenbild,
machen sich Nebensächlichkeiten wichtig. Reisegepäck, ein Bücherschrank, ein weißer
Korbstuhl irgendwie am Ende einer Eisenbahnlinie, Lichtleitungsmasten, ein sich
drehender Bankettsaal.
Gewiß, die Szenerie markiert antinaturalistisch:
Hier wird Theater gespielt. Raffen des Vorhanges nach den Seiten, der Souffleurkasten
auffällig als eine Muschel. Auch akzentuiert sie die Disharmonie, die
Auflösung, das irrlichternd Widersinnige im Handeln einiger Figuren. Aber die
überbetonten Details drängen sich vor das Stück. Und der Regisseur entwickelt
die Fülle Tschechowscher Komik sozusagen stets aus dem Stand, nicht aus der
konkreten szenischen Heimat der Figuren.
Christine Schorn, Schauspielerin von
außerordentlicher Sensibilität, spielt die Gutsbesitzerin Ranjewskaja.
Immerfort ist sie in hektisch-unruhiger Bewegung, sich ablenkend mit leicht
theatralischen Freundlichkeiten, nachlässig-großzügig an ihrer schönen
Lebenslüge festhaltend — bis sie erfährt, daß das Gut verkauft ist, gekauft von
Lopachin. Aber auch da bewahrt sie Haltung, mit letzter Kraft zwingt sie sich.
Nur einmal gibt sie sich unmittelbar, ohne Koketterie. Als sie den provokanten
Wahrheiten des Studenten Trofimow (Peter-Mario Grau als Gast), den sie
eigentlich mag, überlegen-sarkastisch ihre Auffassung entgegensetzt
Dann bricht sie auf nach Paris, läßt
egoistisch und gefühllos ihre Kinder zurück, gerade, daß sie noch schnell und
nebenher Warjas Heirat zu managen versucht. In schwarzer Hose, schwarzem Pulli
tigert sie umher, mit schwarzer Melone auf dem Kopf (Kostüme: Gabriele Koerbl),
auf der Suche nach einer neuen Lebensillusion, an die sie sich nun verbissen
hängen wird.
Dieter Mann ist der Gegenspieler, der
Kaufmann Lopachin, der ehemalige Bauer, dessen Vater noch Sklave war auf dem
Gut, das er jetzt gekauft hat. Dieser Lopachin tritt schon auf wie der neue
Herr, burschikos-verschmitzt, selbstbewußt, mit hellgrauem, breitrandigem
Filzhut als Kennzeichen demokratischer Gesinnung. Der junge Bourgeois also, der
noch Herz hat und Seele und doch schon kühl kalkuliert. Einmal läßt er sich
gehen, als er als glücklicher Käufer aufs Gut kommt und erst da sich der neuen
Lage so recht bewußt wird. Er lacht, weint in einem, umarmt gar die
Ranjewskaja, fällt mit ihr zu Boden. Dann waltet er als der neue Besitzer,
verbindlich, konsequent. Er ist der Mann des Tages, dieser Zeit, und den
Trofimow, seinen künftigen Widersacher, hat er schon im Auge.
Hervorragend auch Otto Mellies als
selbstgefällig-blasierter Onkel Gajew und Fred Düren als seniler Diener Firs.
Heidrun Perdelwitz gibt der Tochter Anja kindliche Unbekümmertheit. Barbara
Schnitzlers Warja, die die Borniertheit der anderen erkennt, flüchtet sich
leidend in verbitterte Demut. In weiteren Rollen einprägsam Gabriele Heinz
(Dienstmädchen Dunjascha), Reimar Joh. Baur (Kontorist Jepichodow) und Frank
Lienert (Diener Jascha).
Resümee: Anton Tschechow ist alles andere als
ein langweiliger Schriftsteller. Friedo Solters spannende und amüsante
Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin zeigt es einmal mehr.
Neues
Deutschland, 7. Dezember 1984