„Kirschgarten“ von Anton Tschechow im Burgtheater
Wien, Regie Peter Zadek
Komik eines historischen Untergangs
Ovationen für den Jubilar im Theater am
Kurfürstendamm, für seine Inszenierung des „Kirschgarten" von Anton Tschechow.
Peter Zadek, der während des Gastspiels mit dem Wiener Burgtheater seinen 70.
Geburtstag feierte, verschaffte dem eher provinziellen 33. Theatertreffen
Berlin noch einen Höhepunkt. Zadeks Weggang, wurde deutlich, ist ein
schmerzlicher Verlust. Denn es hat nicht mehr so viele Regisseure in der
Hauptstadt, die sozialpsychologisch stimmiges Theater zu bieten verstehen.
Gewiß: Tschechows Komödie „Der Kirschgarten" ist sozusagen das Routine-Stück des Naturalismus, das jedes Ensemble, das etwas auf sich hält, von Zeit zu Zeit abarbeitet. Es menschelt so schön beim russischen Dichter, das Stück ist noch immer auch irgendwie aktuell - „Abwicklung" einer Immobilie heißt das neuerdings - und außerdem stets ein Prüfstein für die Kunst der Schauspieler. Manch einer findet über Tschechow auf der Bühne zu einer realen Geste und zu einem normalen Ton zurück. Wobei solch Unternehmen sich nie zu akademischem Theater verfestigen sollte.
Peter Zadek, der Peter Brook der Sensibilität
auf deutschsprachiger Bühne, hatte am Wiener Akademietheater, der Filiale des
Burgtheaters, selbstverständlich ein hervorragendes Ensemble zur Verfügung.
Einige Künstler übrigens dabei, die sich gleich Zadek im rauhen Berlin versucht
haben, aber mit ihm gen Süden gezogen sind. Angela Winkler, Eva Mattes, Theresa
Hübchen, Urs Hefti, Hermann Lause, Sylvester Groth. Auch das Verluste! Doch was
rechne ich. In der Kunst, ist die Bezahlung geregelt, zählen Empfindungen,
Erkenntnisse. Zadek wuchert damit nicht. Er weiß hauszuhalten, einzuteilen,
auszuteilen. Ins Zentrum seiner Inszenierung rückt er Lopachin, den Kaufmann,
den ehemaligen Bauern, dessen Vorfahren Leibeigene waren auf dem Gut der Ranjewskaja.
Über diese Figur vermittelt er Bewegung, den Menschen bedrängende, gar
zerstörende soziale Veränderung, den unaufhaltsamen, gnadenlosen Untergang der russischen
Aristokratie.
Der Lopachin Josef Bierbichlers, obwohl von Leonid Gajew, dem Bruder der
Ranjewskaja, „roher Mensch" genannt, ist in seinem Auftreten alles andere
als offenkundig brutal. Er ist zwar etwas aufdringlich, aber meist locker aufgeräumt.
Da handelt ein gar nicht grobschlächtig bäurischer, eher ein nervig
bürgerlicher, schlicht ein leicht nervöser Mensch, irgendwie ständig von
schlechtem Gewissen geplagt, jedenfalls fast rührend bemüht, das Ärgste vom Gut
abzuwenden. Doch die Besitzerin hört nicht auf ihn. So folgt er in aller Unschuld
der Notwendigkeit seiner geschäftlichen Interessen. Die Ersteigerung des Gutes
ist ihm ein Fest. Er hat sie im Frack erledigt, taumelt nun - geistig dem Ereignis
nicht gewachsen - zwischen unerhörtem Glücksgefühl und Verlegenheit; fast ratlos
gegenüber der ehemaligen Besitzerin, die er noch immer zutiefst verehrt. Er
nähert sich ihr unsicher, wie Vergebung erheischend, wird brüsk abgewiesen.
Aber er hat die Cleverneß, ganz nebenbei die Schlüssel vom Gut aufzuheben, die
Warja wegwarf, als sie vom Verkauf erfuhr.
Ich sah Lopachins, die von ihrem Schauspieler leicht verfremdet in die
Kritik genommen wurden. Das stimmte durchaus, wenn es nicht übertrieben
ausgestellt wurde, etwa wie von Dieter Mann am Deutschen Theater. Bierbichlers Kaufmann
hat Skrupel, aber der Schauspieler führt die Figur in die Sympathie. So muß ein
Unternehmer halt sein! Was kann er dafür, wenn andere nichts vom Geschäft verstehen!
Auch mit dieser Sicht wird die Gnadenlosigkeit kapitalistischer Praxis sinnfällig.
Alles, was Lopachin unternimmt, ist ja ganz
alltäglich und so „menschlich".
Das Opfer, die Ranjewskaja, ist bei Angela
Winkler eine sanfte Naive, nicht vom Theater, aber irgendwie aus einer Schule
höherer Töchter, die systematisch zu Lebensfremdheit erzogen wurden. Ein leicht
sentimentaler Singsang beim Sprechen fügt sich zur Figur, einer Frau und
Mutter, die selten laut wird; zum ersten Mal, als sie begreift, daß ihr Kirschgarten
abgeholzt werden soll, zum letzten Mal, wenn sie verbittert „Nein"
schreit, nachdem der Verkauf vollzogen ist. Angela Winklers Ranjewskaja bewegt
sich jugendlich weich und elegant, als sei sie noch immer in einem Pariser
Salon. Sie liebt es, ihre linke Schulter nackt zu haben, kokettiert ansonsten
keineswegs vordergründig, ja eigentlich ahnt man nur, daß sie Männer zu schätzen
weiß. Wenn sie Trofimow, den Studenten (Sylvester Groth), wegen seiner
schmachtenden Zurückhaltung regelrecht abkanzelt, bricht eine Leidenschaft aus
ihr heraus, die sie sonst zu verbergen versteht. Tapfer setzt sie sich bei Lopachin
für Warja (Eva Mattes), ihre Adoptivtochter, ein. Innig umarmt sie beim Abschied
ihren Bruder (Ulrich Wildgruber), den sie wegen seiner eitlen Redseligkeit gelegentlich
bremsen mußte. Bis zur letzten Minute hält sie ihre schützende Hand über den uralten,
gebrechlichen Diener Firs (Hermann Lause), was ihn nicht rettet.
Tschechow, der traditionell meist in den Guckkasten und damit etwas
distanziert plaziert wird, ist bei Zadek und dessen Bühnenbildner Karl Kneidl
nahegerückt. Gespielt wird oft sogar vor dem Portal, grundsätzlich mit
verhaltenem Saallicht. Das fügt zusammen, holt heran. Und die fernen
Geschehnisse bekommen berührende Unmittelbarkeit - eine einst allmächtige
soziale Schicht lebt, ohne es zu begreifen, ihrem historischen Aus entgegen.
Das ist auch komisch.
Neues
Deutschland, 22. Mai 1996