„Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow am Deutschen Theater Berlin, Regie Wolfgang Heinz

 

 

Ende einer Epoche

 

 

Sucht Anton Tschechow mit seinem „Kirschgarten" Sympathien für eine längst vergangene Welt zu wecken? Haben wir heute nicht ernsthaftere Aufgaben, als uns diese Komödie anzusehen? Ist das sparsam dramatische Stück nicht eigentlich rechtschaffen langweilig? Wer so fragt, verstellt sich den Zugang zu dem Spätwerk des Dichters.

Stanislawski berichtet: „Als es in Rußland nach Pulver roch, sagte mir Tschechow zwar erregt, aber sicher und bestimmt: ,Furchtbair! Aber ohne das geht es nicht.'... In der schönen Literatur gegen Ende des vorigen und zu Beginn unseres Jahrhunderts fühlte er als einer der ersten die Unvermeidbarkeit der Revolution, noch während sie im Keime steckte und die Gesellschaft sich weiterhin in Ausschweifung erging."

Tschechow sah zwar nicht die revolutionäre Kraft der Arbeiterklasse, in seinen Stücken tritt sie auch nicht hervor, aber als Dichter, der eng mit dem Leiden und dem Hoffen seines Volkes verbunden war, ahnte er die nahenden großen Veränderungen in seinem Vaterland. Wie der Student Trofimow im „Kirschgarten", strebte er danach, den Menschen den Weg zur höchsten Wahrheit zu weisen. Deshalb fing er das einstmals schöne, jetzt aber unnütze Leben der Gutsbesitzer ein, um von der Bühne herab das Ende einer Epoche zu. verkünden. Er ging in seiner tiefgründigen, behutsamen Gestaltungsweise geradezu liebevoll allen Verästelungen dieser gesellschaftlichen Erscheinung nach und war überglücklich, mit dem russischen Titel „Wischnjówy ssad" — im Gegensatz zu „Wischnewy ssad" — die Bezeichnung eines Kirschengartens gefunden zu haben, der keinen Ertrag mehr bringt, dessen. Blütenpracht ein Frühlingshoffen vorgaukelt, das die verkommenen Bäume enttäuschen müssen. Tschechow gestattete der scheidenden feudalen Klasse keinen tragischen Abgang. Er war empört, wenn Künstler meinten, eine Tragödie vor sich zu haben. Mit überlegener Ironie setzte er die Gestrigen dem verurteilenden Lachen aus — in feinfühliger dialektischer Nuancierung menschliche Schwächen und reine Klassenbeschränktheit abwägend.

Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, einst reiche Gutsbesitzerin, reiste vor Jahren mit ihrer Tochter Anja nach Paris, um den Tod ihres Gatten und den ihres sieben jährigen Jungen zu vergessen. In Paris kaufte sie eine Villa für den schnell gefundenen Geliebten. Der Mann ließ sie allein. Mit der Tochter, jedoch ohne jedes Vermögen, kehrte sie nach Rußland zurück. Dort erfährt sie, daß ihr Besitz versteigert wird. Aber sie begreift das nicht. Kaufmann Lopachin, der Vertreter der aufkommenden Bourgeoisie, schlägt ihr ein ertragversprechendes Geschäft vor: Das Gut soll verkauft, der Kirschgarten abgeholzt und in Villenparzellen für reiche Bourgeois aufgeteilt werden. Die Ranjewskaja verwahrt sich gegen ein solches Ansinnen. Sie hängt ihren Träumen nach, denkt an ihre Kindheit, an die Zeit des sorgenlosen Lebens auf dem Gut. Und sie denkt immer wieder an ihren Geliebten in Paris, der sie telegrafisch um Verzeihung gebeten hat. Dem wirklichen Leben, der Wahrheit, vermag sie nicht ins Gesicht zu schauen. Dafür hat sie einfach keinen Blick. Und den Studenten Trofimow, der ihr ins Gewissen zu reden sucht, jagt sie mit einem verzweifelten Loblied auf die Liebe, der er nicht fähig sei, regelrecht in die Flucht. Denn, was sich über die Zeiten retten ließ, die Liebe zum anderen Geschlecht, die sich aus eigennütziger Genußsucht oder — mag sein — aus echtem Gefühl vor keiner Konsequenz scheut, nicht einmal die ist jetzt ein Trost. Lopachin, der Bürger, hat den Kirschgarten ersteigert. Und die Gestrigen müssen das Gut verlassen.

Regisseur Wolfgang Heinz hatte in Erika Pelikowsky eine wundervolle Darstellerin für die Ranjewskaja. Mit ihrer glockenhellen, geschmeidig-weichen und warmen Stimme verlieh sie der Gutsbesitzerin jene Züge der verwöhnten Dame von Welt, die nur in ihren konventionellen Klassenvorstellungen lebt, über aufkeimende mütterliche Gefühle sehr schnell wieder zu eigensüchtigen Gefühlsregungen zurückfindet und ohne echte, tiefe Empfindung betriebsam alle notwendige gesellschaftliche Herzlichkeit an den Tag legt. In dieser Darstellung flackert Dekadenz auf, ohne auch nur einmal vordergründig herausgestellt zu werden. Ebenso bei Friedrich Richter, der den Bruder der Ranjewskaja spielt. Gajew ist rührend bemüht, der Schwester die Illusionen der Vergangenheit zu bewahren. Mit aristokratischer Arroganz hält er sich Menschen vom Leibe, die nicht seines Standes sind. Er ist wie ein wenig in sich zusammengekrampft, um alle Unbill dieses für ihn immer seltsameren, unbegreifbaren Lebens besser abwehren zu können.

Auch die anderen Rollen sind vortrefflich besetzt. Fred Düren fällt auf als Kontorist Jepichodow. Er streichelt diese Rolle regelrecht und entlockt ihr in unnachahmbarer Intensität die bis in die Fingerspitzen ausgefeilte köstliche Studie eines armseligen, verliebten Pechvogels. Emil Stöhr verleiht dem Studenten Trofimow sentimental-gutherzige Züge. Die Anja Gisela Büttners ist ein helles, aufgewecktes, noch unfertiges Geschöpf; die Warja Elfriede Nées eine von Enttäuschungen frühzeitig gealterte, vergrämte Jungfer. Heinz Voss stellt einen poltrig-selbstbewußten Kaufmann Lopachin auf die Bühne. Prachtvolle Studien geben Artur Malkowsky als beihäbig-runder Gutsbesitzer Simeonow-Pischtschik, Fritz Hofbauer als uralter Diener Firs und Lisa Macheiner als schwermütig-quirlige Gouvernante Charlotte. Elsa Grube-Deister kichert und schwärmt als Stubenmädchen Dunjascha, Friedo Solter hofiert und protzt als Diener Jascha.

Die Komödie ist von Wolfgang Heinz in den trocken-nüchternen Bühnenbildern Heinrich Kilgers nicht auf „duftende Atmosphäre" inszeniert, sondern mit realistischer Kraft auf eine freundlich-herbe szenische Spannung, die Tschechow gut verträgt. Einige schrille Töne, vor allem die des Tonbandes, stören unnötig die lebendige Einheit des unkonventionellen, präzisen Ensemblespiels.

 

 

SONNTAG, 15. Oktober 1961