„Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki am
Maxim Gorki Theater Berlin, Regie K. D. Schmidt
Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Das Maxim Gorki Theater bemüht sich um seinen Namenspatron, bringt dessen Schauspiel „Kinder der Sonne" (1905). Das ist gut in dieser Zeit des Umbruchs des Ensembles. Darsteller, die am Haus über Jahrzehnte faszinierende Gorki-Aufführungen prägten, wichen einem Nachwuchs, der mit dem Dichter kaum Erfahrung hat.
Auch Regisseur K. D. Schmidt, wie sich zeigt, ist noch
auf dem Wege zu Gorki. Sonst hätte er empfunden, welchen Umweg, wenn nicht gar
Irrweg er mit seiner Inszenierung gegangen ist. Wenn eine Provinzbühne sich
erhaben fühlt und Gorki entwurzelt, ihm nicht einmal sein Milieu gestattet, mag
das als „modernes" Theater abgebucht und schnell vergessen werden. Hier aber,
wo das Werk des großen Russen im deutschsprachigen Raum lebendig gehalten werden
sollte, ein Werk zugleich, an dem sich ein junges Ensemble aufbauen und entwickeln
läßt, ist sensiblerer Umgang zu erwarten und zu fordern.
Warum, frage ich Bühnenbildner
Hansjörg Hartung, kriegt Gorkis Privatgelehrter Pawel Protassow kein altes Herrenhaus
mit halbdunklem Zimmer und altem Mobiliar aufgebaut? Warum stellt man ihm einen
seltsamen Verschlag hin mit zwei Tapetentüren, zwischen denen sich völlig
funktionslose Schläuche winden? Warum stehen fünf weiße Küchenstühle herum,
aber kein Tisch, auf dem der Tee serviert werden kann? Weil der Wissenschaftler
so verarmt ist? Hartung entwarf nicht Gorkis Welt, in der differenzierte Charaktere
ihr trotziges, ihr versagendes Leben leben, sondern einen Ort für
allgemeines, für glattes Theaterspiel. Und der Regisseur ließ sich das bieten.
Spürte er nicht, wie schwer durch solch ein anonymes Bühnenbild der realistische
Zugang zu Gorki wird?
Am besten kamen die erfahrenen
Darsteller des alten Ensembles zurecht. Für sie ist es selbstverständlich,
eine Figur und deren Text aus der gestischen Beziehung zur Situation zu
produzieren. So bringt Monika Lennartz als brummig-vergnatzte alte Kinderfrau
Antonowna stets ihr soziales Umfeld mit auf die Bühne. Rührend, wie sie eine
hilflose alte
Frau kreiert, die
umsichtig und schon fast verzweifelt zu retten versucht, was für die Herrschaften
vielleicht noch zu retten ist. Güte in sorgender Abwehr von Rohheit. Auch
Gottfried Richter fällt auf mit einer genauen Studie des Schlossers Jegor,
eines wuchtigen, im Grunde unglücklichen Mannes, der seine Frau (Monika Hetterle)
prügelt, aber leidet, wenn sie krank ist. Wolfgang Hosfeld liefert präzis einen
verschrobenen Landstreicher Troschin. Und Susanne Böwe führt detailgenau die
reiche Melanija vor, die es in ihrer grenzenlosen Naivität einfach nicht fassen
kann, daß sich der abgöttisch geliebte Gelehrte Protassow von ihr nicht kaufen
läßt.
Der andere Teil des Ensembles: Junge Darsteller, die vor allem ihren
Text sprechen und sich dazu möglichst figurengerecht gebärden. Till Weinheimer
als Protassow, simpel äußerlich hantierend, schaffte zunächst nicht mehr als
aufgekratzte, gewollt kauzige Geschäftigkeit. Nach der Pause fand er
differenzierter zur Gestalt. In der Auseinandersetzung mit Melanija wurde schließlich
etwas von der Weltfremdheit spürbar, mit der dieser junge Herr durchs Leben geht.
Plötzlich war er echt komisch, wurde er schauspielerisch interessant. Er
braucht gute Regisseure. Auch Thomas Schmidt, der den Tierarzt Tschepurnio gibt. Das ist ein Darsteller, der sein gestikulierendes
Spiel mühelos locker mittels des Textes produziert und dabei den Spaß spüren
läßt, den ihm das macht. Es entsteht ein verspielter Zyniker, doch zu wenig
der innerlich kaputte Mann, der es nicht verkraftet, von Lisa, einer schönen
Frau, abgewiesen zu werden. Diese Lisa ist bei Anna Steffens eine
unergründliche schwarze Madonna, flexibel anmutig in Szenen zärtlicher
Offenheit, aber fest, zur Grimasse erstarrend, fast hilflos in Momenten der
Verzweiflung. Abruptes Schreien - nicht nur bei ihr - ungestalt. Vornehm
zurückhaltend, manchmal leider ausdrucksarm Marie-Lou Sellem als Protassows
Frau Jelena.
Kinder der Sonne - eine Generation junger
russischer Bürger voller Hoffnung auf die Zukunft, aber nicht in der Lage, die
Gegenwart zu meistern. So viel erzählt die Inszenierung K. D. Schmidts denn
doch. Sie verzichtet allerdings darauf, die Aggression der Armen und Unwissenden
auf das Anwesen Protassows, mit der Gorki sein Stück endet, ausführlich vorzuführen.
Gewiß, der Dichter ist arg weitschweifig. Aber er ist auch bitterer,
gnadenloser, als es derzeit am Maxim Gorki Theater wahrgenommen wird.
Neues
Deutschland, 5. Oktober 1995