„Ein Kind unserer Zeit“ von Ödön von
Horváth am theater 89, Regie Hans-Joachim Frank
Pures Ergötzen bei
Ekkehard Schall, dem großen Brecht-Darsteller, dem berühmten „Ui“ der sechziger
Jahre. Im theater 89, dem kleinen Off-Theater in Berlins Mitte, unweit vom
Berliner Ensemble, spielt er extraordinär einen treuherzig kampfwilligen
Soldaten, entwirft er das widersprüchliche Bild eines Menschen, der zum
willfährigen Instrument kriegslüsterner Mächte geworden ist.
Die Premiere des
Monologs „Ein Kind unserer Zeit“ von Ödön von Horváth fand just an dem Tag
statt, an dem im Reichstag der Kanzler für den Einsatz deutscher Truppen in dem
neuesten USA-Krieg eiferte. Und das Beunruhigende: Der alte, hier und da auch
etwas sentimentalische Text des Ungarn (1901/38) schien genau für diesen Tag
und den aberwitzigen Vorgang im deutschen Parlament geschrieben.
Ein Soldat, ein arbeitsloser armer
Schlucker, der endlich bei der Armee ein Auskommen und, wie es scheint, auch
ein Fortkommen hat, glaubt an seinen Hauptmann, eine Vater-Figur, und auch
wieder an sein Vaterland, das er zu verteidigen wähnt. Die Dinge scheinen
geordnet, Denken überflüssig. Als die Kompanie zum Einsatz in fremdes Land
zieht, er dort zufrieden zuschaut, wie ein Dorf bombardiert wird, er
unschuldige Zivilisten aufhängen hilft, glaubt er noch immer, ein Guter zu sein
und für das Vaterland Rechtes zu tun. Bis ausgerechnet der Hauptmann, sein
Vorbild, den Freitod wählt, weil der die Verbrechen im Namen des Vaterlandes
nicht mehr mit verantworten will. Die bislang heile Welt des Soldaten bricht
zusammen, er beginnt über sie nachzudenken, hält sie fortan für einen Saustall
und ist verunsichert: Welch Handeln passt warum in welche Zeit?
Dass dieser armselige, leider gefährliche
Mensch im theater 89 so eindringlich wie behutsam vorgestellt wird, ist das
Verdienst Ekkehard Schalls. In der bewährt filigranen Regie Hans-Joachim Franks
und im poetischen, fast romantisierenden Bühnenbild Anne-Kathrin Hendels
charakterisiert er dieses „Kind der Zeit“ verständnisvoll und kritisch. Der
große Schauspieler kann es nicht lassen, sich aktuell zu engagieren. Als ich
ihn Anfang der sechziger Jahre interviewte und fragte, woher er Abend für Abend
die Kraft und Intensität nehme für die desavouierende Darstellung des „Ui“,
antwortete er damals sinngemäß, er brauche nur täglich die Nachrichten über
Krieg und Unrecht auf der Welt zu studieren, um sich Überzeugung und Emotionen
für diese Figur zu holen.
Ekkehard Schall, wie stets ein exakter,
elementarer Arbeiter auf der Bühne, gemessen und genau jede Regung, jede Geste,
verhalten temperamentvoll, führt in seiner unnachahmlichen, Widersprüche einer
Figur lebendig machenden, plastischen Spielweise einen naiven Bürger vor,
treuherzig und redlich scheinbar, irgendwie sogar liebenswert - am
Ende ein desillusionierter, geistig gebrochener Mensch, der sich verführen
lassen hatte und nun mit zerschossenem Arm auf des Wohl des alten Vaters
angewiesen ist, eines erklärten, bewussten Kriegsgegners.
Ein wichtiger Abend der Begegnung mit einem
großen deutschen Schauspieler, ein noch wichtigerer Abend wegen berührender
Aktualität.
Neues Deutschland, 14. November 2001