„Kikeriki“ von Sean O’Casey am Deutschen Theater Berlin, Regie Rolf Winkelgrund

 

 

 

Phantasievolles Theater mit prallen Charakteren

 

Es gab viel Beifall an diesem Premierenabend im Deutschen Theater. Das Publikum applaudierte Rolf Winkelgrunds stilsicherer, komödiantischer Inszenierung der grotesk-phantastischen Komödie „Kikeriki" von Sean O'Casey. Der irische Dramatiker (1880-1964) zählt neben Maxim Gorki und Bertolt Brecht zu den Klassikern des sozialistischen Realismus, die der Theaterkunst neue Dimensionen erschlossen. Sein dramatisches Werk bezeugt den ästhetischen Reichtum wahren Volkstheaters. Der kommunistische Dichter schrieb dieses Stück 1947-1949, attackierte die rückständige bürgerlich-klerikale Gesellschaft: Auf O'Caseys Bühne wankten und schwankten jene Repräsentanten der alten Ordnung, die in der Realität scheinbar unerschütterlich waren, in erbärmlicher Lächerlichkeit.

Und so erlebt man es im Stück: Ein Hahn bringt die Sittenstrengen, die Gottesfürchtigen durcheinander. Im DT ist es ein mannsgroßes Exemplar mit mächtigem rotem Kamm, strammen gelben Beinen und faszinierendem blaugrün-schwarzem Gefieder aus Eduard Fischers Werkstatt. Das Federvieh verwirrt die irische Landgemeinde Nyadnanave, es stiebt und geistert umher, „erscheint" Landwirt Marthraun und Unternehmer Mahan und verhilft bislang unterdrückter natürlicher Leidenschaft bei Weib und Mann zu rüstigem Selbstvertrauen. Doch nicht nur vom kecken Gockel werden die Dorfmächtigen in Angst und Schrecken versetzt, sondern auch von Arbeitern, die streiken, von Frauen, die sich emanzipieren.

In hektischem Eifer organisiert Gemeindepfarrer Domineer deshalb Pogrome wider jegliche natürliche Regung, gegen Gedanken und Bücher. Tobend erschlägt er einen Arbeiter, weil der angeblich in Sünde mit einer Frau lebt. Er läßt das hübsche Mädchen Loreleen fast lynchen und vertreibt es aus dem Dorf. Und er verjagt den Hahn, dieses Symbol sinnenfrohen, vorwärtsweisenden Lebens. Domineer obsiegt zwar, doch nichts ist mehr wie vorher. Selbstbewußtsein und Hausstand des Landwirts, Gemeinderates und Friedensrichters Michael Marthraun — Symbol für Irland — sind erschüttert. Seine junge Frau Lorna verläßt das Dorf mit Loreleen, seiner Tochter aus erster Ehe. Die Hausgehilfin Marion schließt sich ihnen an. Und der Landbote Robin Adair, Nachfahre des legendären Volkshelden Robin Hood, zieht „dorthin, wo das Leben wirklich Leben ist."

Michael Marthraun, der bislang in Finanzangelegenheiten so listige Torfmoor-Besitzer, ist am Ende allein, verstört. Ihm leiht Kurt Böwe seine massige Gestalt. Herrlich komisch, wie dieser Michael mit verzweifelter Ruhe den anderen rät, von den vertrackten, unfaßbaren „Erscheinungen" einfach keine Notiz zu nehmen — und wie man doch sieht, daß es ihm in grauser Angst jede Haarwurzel auf dem Kopfe eng und enger zusammenzieht. Im zähen Handel mit Schipper Mahan, dem Fuhrunternehmer, ficht er mit bärbeißiger Rhetorik um jeden Penny, verharrt hingegen feige, wenn er seiner drangsalierten Tochter Loreleen eigentlich helfen sollte.

Der Schipper Mahan von Dietrich Körner hat eine rührende grüblerische Tapferkeit in der Abwehr der Ängste, die ihn angesichts des Spuks befallen. Er widersteht - jede Faser Geschäftsmann — mit sachtem Trotz dem Befehl des Paters, einen „unsittlich" lebenden Arbeiter zu entlassen, und wird zum Charmeur, wenn er mit Loreleen allein im Garten ist.

Überzeugende darstellerische Leistungen auch in weiteren Rollen. Hinreißend Reimar Joh. Baur als frömmelnder Aufschneider Shanaar, der mit scheinheiligem Pathos horrende Dummheiten verkündet. Roman Kaminski karikiert einen schlotternden Sergeanten. Klaus Piontek zeigt einen dogmenstarren, seelenlos eifernden Gemeindepriester Domineer. Thomas Neumanns Landbote Robin ist ein liebenswürdiger, geselliger und mutiger Naturbursche.

Barbara Schnitzler als Loreleen: rotes Haar, grellgrünes leichtes Kleid, grüne Schuhe. Ein federnd junges, schmiegsames Weib, aufreizend schon allein durch ihre Anwesenheit. Jutta Wachowiak gibt als Lorna eine selbstbewußte junge Ehefrau, überlegen-trocken im Umgang mit ihrem Michael. Simone von Zglinicki (Marion) spielt ein aufgewecktes, wohlproportioniertes Frauenzimmer, das seinen Spaß mit den Männern treibt. Sehr komisch auch Frank Lienert als angehender Kirchendiener Larry.

Der Erfolg der Inszenierung geht anteilig an den Gast-Bühnenbildner. Jürgen Heidenreich baute den Vorschlägen des Dichters folgend stilsicher das Marthraunsche Anwesen, im Hintergrund eine Anhöhe mit Wegen über die grünende Wiese. Das läßt rauhes irisches Wetter ahnen und hat trügerisch-idyllische Verspieltheit. In dieser Szenerie entfesselt Gastregisseur Winkelgrund das zwischen Phantastik und Realität pendelnde Spiel. Die schöne, reale Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens erreicht das Publikum sofort.

 

 

 

Neues Deutschland, 2. Dezember 1986