„Der Kaufmann von Venedig“ von Shakespeare vom Burgtheater Wien, Regie Peter Zadek

 

 

 

Der tragische Irrtum des Juden Shylock

 

Shakespeares tragische Komödie „Der Kaufmann von Venedig" in der Inszenierung von Peter Zadek aus dem Jahre 1988 ist noch immer sehenswert. Sie hat an Erheblichkeit sogar gewonnen. Wer wollte, konnte sich jetzt im Berliner Ensemble gelegentlich eines Gastspieles des Wiener Burgtheaters überzeugen.

Ein Vergleich reizt. 1985 am Deutschen Theater in Berlin, als Fred Düren den Shylock spielte, hatte Thomas Langhoff widerlegt, daß das Stück von seinem Ursprung her antisemitisch sei. Langhoff hatte die bislang kaum beachtete Passage des Stückes, in der der Dichter den Juden folgenschwer irren läßt, als Schlüsselszene akzentuiert:

Shylock, bisher von den Christen gedemütigt und bespien, glaubt einen Wandel herbeiführen zu können, wenn er der Bitte des Kaufmanns Antonio nachkommt und ihm Geld leiht. Als Zeichen seines Entgegenkommens will er keinen Heller Zinsen für 3 000 Dukaten nehmen, sondern „zum Spaß" ein Pfund von dessen Fleisch. Ein „lustiger Schein" soll das Geschäft besiegeln, mit dem Shylock Antonios Freund zu werden hofft. Welch tragischer Irrtum. Auch Peter Zadek betont diese vergebliche Hoffnung des Juden.

Ein merklicher Unterschied: Langhoff hat die Story als in der Renaissance geschehen erzählt. Antonio war der auf den prosperierenden Welthandel setzende Kaufmann von Venedig, Shylock, der durch Geldverleih nach dem puritanischen Motto „Gewinn ist Siegen" reich gewordene Jude. Am Schluß, nachdem der Jude „rechtmäßig" beraubt und per Gerichtsentscheid zum Christentum bekehrt worden war, stand Antonio, ein eiskalt handelnder Emporkömmling, als Sieger im Zentrum der Bühne.

Bei Zadek ist Antonio kein Sieger, sondern ein gerade noch einmal Davongekommener. Alleingelassen steht er einsam im Trubel der Liebespaare, verunsichert, ratlos, nervös auf der Zigarre kauend. Antonio ist in Ignaz Kirchners Darstellung nicht der kühne Kaufmann von Venedig, sondern ein taktierender, offenbar immer gerade am Ruin vorbeischlitternder Unternehmer unserer Tage.

Zadek also spielt Gegenwart, hartes, raues Geschäft vor der Glasfassade eines Geschäftshauses (Bühnenbild Wilfried Minks). Für einen Moment irritiert die zeitgenössische Kleidung der smarten Herren vom Kapital. Ihre branchennahe Agilität mit Köfferchen oder Zeitung steht befremdlich im Widerspruch zum alten Text, den sie sprechen, obwohl der von Elisabeth Plessen geschickt ins Heute transferiert wurde. Aber Zadeks Zeit-„Klitterung" holt die Vorgänge heran und macht Shylocks erzwungene Christianisierung vor dem Hintergrund der aktuellen Rassen- und Glaubenskriege zu einem Menetekel.

Dies auch dank der Darstellung von Gert Voss, dieses faszinierenden Schauspielers differenziertesten Ausdrucks. Er gibt den Shylock in lockerer Selbstverständlichkeit als einen Mann in den besten Jahren, nicht gerade hemdsärmelig, aber mit Hosenträgern über dem Hemd, selbstbewußt, umgänglich, klug und offen, von scharfem Intellekt.

Die Schlüsselszene bei Voss: Sein Shylock erörtert emotionslos geschäftsmäßig Antonios Lage. Dann tritt er an die Rampe, um dem Publikum mitzuteilen, daß er den Christen Antonio haßt. Er sagt das aber auch, schien mir, um seine eigentliche Sehnsucht niederzuhalten. Wie als kenne er sich nur zu gut. Denn prompt läßt er allen Hader fallen. Nachdrücklich will er nicht einem Feind, wie Antonio vorschlägt, sondern einem Freund das Geld leihen. Und Kirchners Antonio und Voss' Shylock werden sich - über ihre Konkurrenzsituation hinweg - in bester Laune handelseinig. Bassanio mutmaßt Hinterlist. Doch Voss spielt, so ich das recht gesehen habe, keine List, sondern einen Menschen, der die Gelegenheit beim Schöpfe faßt, einen leidigen Zwist endlich beenden zu können.

Aber es kommt anders. Die Christen spielen Shylock böse mit. Ihm bleibt keine Wahl. Voss zeigt einen Ungebrochenen, der alles Schicksal auf sich nimmt. Der Geldraub scheint ihn wenig zu bewegen, auch das Treiben seiner Tochter. Einmal schluchzt er, schreit er auf, sie sei verflucht. Schon hat er sich wieder in der Gewalt, geht er als Geschäftsmann vor. Die Sache mit dem Fleisch nimmt er jetzt wie eine Angelegenheit reiner Routine. Wenn Antonio „aus Venedig weg ist", sagt er nun, „kann ich jedes Geschäft machen, das ich will."

Die Szenen, in denen um Geld verhandelt wird, läßt Zadek ausspielen. Die anderen Vorgänge, die bizarre Wahl der Kästchen bei der reichen Portia (Eva Mattes) vor allem, werden präzis und locker, aber zügig absolviert. Die Aufführung hat etwas märchenhaft Verspieltes, eine schöne komödiantische Unbekümmertheit trotz ihrer tieferen Bedeutung. Insofern ist sie guter, realistischer Shakespeare.

 

 

Neues Deutschland, 10. März 1993