„Die Kassette“ von Carl Sternheim am
Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Erich Sidler
Possierliches Panoptikum
Aktienkurse auf Talfahrt. Verluste für die kleinen Anleger. Waren die aktuellen Börsen-Querelen dem Berliner Maxim Gorki Theater Anlass, Carl Sternheims Komödie »Die Kassette« auf den Spielplan zu setzen?
Oberlehrer Krull - hätte er geerbt, was Tante
Elsbeth in Bayerischen Wertpapieren gehortet hatte - wäre heutzutage wahrscheinlich
einer von den kleinen Börsianern, die ihrem angeblich so gut angelegten
Vermögen nachweinen würden. Aber wen bewegt das noch? Als Sternheims Stück
1912 in München aufgeführt wurde, empörte sich das betroffene bürgerliche
Publikum mit Gebrüll; heutzutage amüsiert es sich über die versammelte Naivität
des in Geldangelegenheiten märchenhaft berauschten Oberlehrers. Was für einen
Theaterabend gerade noch hinreichend wäre. Jedoch: Ist dieser kapitale
Spießbürger Heinrich Krull, der sich für seine junge zweite Frau Fanny finanziell
völlig verausgabt und schließlich geldgierig mit Tante Elsbeths Kassette ins Bett
legt, überhaupt noch einigermaßen glaubwürdig auf die Bühne zu kriegen?
Erich Sidler, demnächst Hausregisseur in
Stuttgart, hat den Versuch gar nicht erst gewagt. War's ihm zu viel Mühe, den
satirischen Realismus Sternheims zu erkunden? Er setzte auf unterhaltsame
Parodie und etablierte den Herrn Krull wie dessen nahe und ferne Verwandtschaft
a priori als Panoptikums-Figuren, hübsch possierlich wie im Kindertheater. Und
Bühnenbildner Dirk Becker stellte ihnen die gutbürgerliche Wohnstube des
Geschehens nicht als Kulisse hin, sondern als eine aufgetürmte Plüsch-Pyramide,
aus der das Mobiliar herausragt wie leckere Waffeln aus dem Erdbeer-Pudding.
Auf diesem Abenteuer-Spielplatz haben
sich die Akteurinnen und Akteure zu tummeln, mehr Akrobaten denn Schauspieler.
Und das Gaudi kommt nicht aus der komischen Desavouierung noch immer und noch
heute kritikwürdigen Verhaltens, sondern vom Klamauk und den Mätzchen, welche
die von Möbel zu Möbel springenden und hangelnden Mimen zu liefern haben. Wobei
ihnen selten eine wirklich gestische und also auch sprecherisch günstige
Haltung gelingt.
Allein Ursula Werner charakterisiert
eine Gestalt, thront als eine stramme, grimmig geldbesessene Tante Elsbeth in und
vor ihrem Domizil, einem Rollschrank. In moralischer Entrüstung ob Krulls
ausschweifenden Lebens zugeschnürt bis an den Hals, immer wieder eine
herrisch-selbstbewusste Positur hervorkehrend, tyrannisiert dieses zu kurz gekommene,
eifersüchtige alte Fräulein mit süßsaurer Miene den elend naiven Oberlehrer
nach der Devise »Ich will Genuss aus meinem Reichtum!«
Den erbärmlichen Erb-Tanz um ihre Kassette
beobachtet sie mit besonders hämischer Genugtuung, seitdem sie - was niemand im
Hause weiß - all ihr Geld der Kirche vermacht hat. Die deftige, klassisch aussagefreudige
Schauspielkunst der Werner rettet den Abend.
Zweifellos, im Vergleich, die Rolle des Krull
ist weniger dankbar. Sie erinnert zwar an Molieres »Geizigen«, hat aber nicht
deren Format. Und wenn ein Darsteller nicht wenigstens klare Haltungen zu
spielen vermag und dort gegebenenfalls etwas nachbessert, wo der Autor ungefähr
blieb, gerät das Spiel allgemein und wenig eloquent. Echt komisch ist Manfred Meihöfer
immerhin, wenn er in Unterhosen und schwarzen Socken in seinem überdimensionalen
Reisekoffer sitzt, geldgierig die Kassette bestaunt und über bayerische
Wertpapiere ins Grübeln kommt. Im Spiel mit Ursula Werner übrigens gewinnt er
merklich an Kontur.
Der Liebesreigen des Fotografen Seidenschnur
(Andreas Bisowski) mit Ehefrau Fanny (Jacqueline Macaulay), Tochter Lydia (Eva
Mende) und Dienstmagd Emma (Monika Lennartz) hinter Krolls Rücken hat nichts
von Schnitzler, aber so ziemlich alles von Kadelburg. Das macht leider
vergessen, dass Sternheims Karikaturen immer mit Wirklichkeit zu tun haben,
mit Wilhelminischer Gesellschaft, und nicht schrullige Typen eo ipso sind. Dass
von der Regie letztlich mehr gewollt war als nur äußerliche Alfanzerei, lässt
die Wahl der Zwischenakt-Musik vermuten, nämlich gut eingepasste, gefühlige
Sequenzen aus Beethoven-Sinfonien.
Neues
Deutschland, 21. März 2001