„Kanzlist Krehler“ von Georg Kaiser an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, Regie Sylvain Maurice
Leben – wofür?
Montag und frei!
Just einen Tag, nachdem er seine Tochter verheiratet hat, verliert Kanzlist
Krehler allen Boden unter den Füßen. Unerwartet und völlig verstört taucht er
am 10. Juli 1910 zu Hause auf. Der Herr Rat hat ihm einen Bürotag frei gegeben,
und er ist, was ihm noch nie widerfuhr, zur Geschäftszeit durch die Straßen
gelaufen. Er kannte sich nicht aus und verirrte sich. Nun steht er vor seiner
erstaunten Frau, berichtet vom unerklärlichen, ihm wunderlichen Alltag in der
Stadt, gipfelnd in dem überraschenden Entschluss, in Pension zu gehen. So
abstrus sein Verhalten scheint: Er hat begriffen, im Büro gleichsam »verbraucht«
worden zu sein und eigentlich noch gar nicht recht gelebt zu haben. Forsch
konstatiert er, nicht »wovon« man lebe sei die Frage, sondern »wofür«!
Ein früher Aussteiger sozusagen, ein echter bürgerlicher Held, so man will. Nach etwas betulicher Exposition spielt Georg Kaiser (1878-1945) den Fall »Kanzlist Krehler« naturalistisch durch, mit kompakten, gleichsam im Telegramm-Stil verfertigten expressionistischen Dialogen. An den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin, wo die Tragikomödie 1922 mit mäßigem Erfolg uraufgeführt worden ist, schien die Eskapade des armen Büromenschen der Wiederbelebung wert. Aus Frankreich wurde ein Expressionismus-Fan herangeholt, Sylvain Maurice, der Leiter der Pariser Compagnie L'Ultime & Co. Im kleinbürgerliche Enge assoziierenden Bühnenbild (Renaud de Fontainieu) blieb er dicht an der Vorlage, vertraute dem Text wie den Schauspielern und verhalf dem Stück zu einem beachtenswerten Remake. Der ungewöhnliche und alsbald scheiternde Aufbruch eines mittelständischen Angestellten - ein amüsantes Bonmot.
Als Kanzlist brilliert Bernd Stempel, als ein Mann in den
besten Jahren zwar, aber ganz und gar aus der Bahn geworfen. Fahrig die Gesten,
ängstlich die Blicke, befremdlich seine Aktivitäten. Was zunächst wie
eskalierende geistige Verwirrung ausschaut, wie eine Angelegenheit für den
Psychiater, erweist sich als wüste Hilflosigkeit, als erschöpfende Verlorenheit
eines Menschen, der urplötzlich sein elendes Dasein durchschaut. Und der eine groteske
Flucht nach vorn antritt, zu dem allerdings a priori verzweifelten, tragikomischen
Versuch, dem Büro-Stillstand zu entrinnen, sich der Welt auszuliefern und sich
ihr hinzugeben. Vom letzten Groschen kauft er sich einen Globus und entdeckt
inmitten seiner guten Stube fröhlich und naiv wie ein Kind Kontinente und Meere,
Städte und Länder. Illusionen!
Schon die familienpraktische Ehefrau (Simone v.
Zglinicki) bremst den Elan mit skeptischer Besonnenheit. Aber das mobilisiert
den Kanzlisten nur neuerlich. Plötzlich bricht Hass aus ihm heraus. Ihm wird
klar, dass sich seine Frau, während er im Büro schuftete, einen guten Tag zu machen
pflegte. Erst der Herr Rat holt ihn behutsam auf den Boden der Tatsachen zurück.
Otto Mellies serviert extraordinär die Charakterstudie eines dezent autoritären
Chefs. Konziliant, aber unerbittlich macht der dem Krehler klar, dass für ihn das Leben gelaufen, dass da keine Hoffnung mehr ist.
Was man fast ahnen konnte: Der sonnige Balkon
im Hintergrund wird schicksalsmächtig. Der seelisch gebrochene Kanzlist ist dem
Leben nicht mehr gewachsen. Ein neuer Schlag hat ihn getroffen. Er kann nicht
verkraften, dass in dem Moment, da er mittellos dasteht, sein Schwiegersohn Max
(Hubertus Hartmann), ein Geometer, eine Erfindung gemacht hat, die Geld
bringt und nicht nur seiner Tochter Ida (Claudia Hübbecker), sondern auch seiner
Ehefrau alle Sorgen nehmen wird. Ist es Hass? Ist es Neid? Er stößt Max vom
Balkon und springt hinterher.
Womit Georg Kaiser eine Ausweglosigkeit
demonstriert, die mit Realismus zu tun hatte, heutzutage allerdings wohl eher als
»spinnert« empfunden werden dürfte. Denn warum, zum Teufel, freut sich der Herr
Kanzlist nicht über einen klugen, reichen und auch noch großzügigen Schwiegersohn?
Wäre mit ausreichend Geld das »Wofür?« nicht vielleicht sogar zu beantworten
gewesen?
Indessen, solch billig opportunistische
Variante war nicht im Kalkül des Dramatikers.
Neues Deutschland, 9. April 2001