„Die Kannibalen“ von George Tabori im carrousel Theater Berlin, Regie Peter Schroth

 

 

 

Der Alptraum der Söhne

 

Noch eben schwärmt jemand von Königsberger Klopsen, von Kartoffelsalat mit Bockwurst. Ein blechernes Tor öffnet sich, junge Leute schreiten herein, formieren sich, schauen ver­gnügt ins Publikum. Sie könn­ten, wie sie gekleidet sind, Anwohner der Berliner Parkaue sein. Aber nein. Einer von ih­nen trägt weiße Handschuhe. Plötzlich klettern sie in Kojen links und rechts. Eine Sirene ertönt. Ein Hahn kräht. Früher Morgen in der Baracke eines Konzentrationslagers. Insas­sen erwachen. Hunger peinigt sie. Bald werden sie wie Tiere übereinander herfallen.

Zum 80. Geburtstag des Dra­matikers George Tabori brach­te das Berliner carrousel Thea­ter dessen Stück „Die Kanniba­len" heraus, ein Spiel der Do­kumentation wie der Phantasie, der Unmittelbarkeit wie der Erinnerung, ein Alptraum, scheinbar mit Entsetzen Scherz treibend, geschrieben, um das Thema Auschwitz auf die Bühne zu bringen, und um Cornelius, den Vater, zu ehren, der in diesem Konzentrations­lager umgekommen ist.

Wer sich bewußt macht, daß faschistoide Geschichtsfäl­scher erfolgreich behaupten, die Verbrechen von Auschwitz seien erlogen, so daß mittler­weile einer von drei Amerika­nern es für möglich hält, der Holocaust habe nie stattgefun­den, wer sich das bewußt macht, dankt dem Autor nach­drücklich. Obwohl Tabori weiß, wie wenig Theater be­wirken kann, nutzt er es, um Wahrheit unter die Menschen zu bringen.

Die New Yorker Presse rea­gierte 1968 auf die Urauffüh­rung der „Schwarzen Messe" im American Place Theatre mit Entsetzen, wertete Obszönitä­ten gewichtiger als die politi­sche Mahnung. Immerhin wur­den der Autor und sein Coregisseur Martin Fried ein Jahr später eingeladen, in der Werkstatt des Berliner Schiller Theaters die deutsche Erstauf­führung zu besorgen. Auch hier Scheu vor den „Unan­ständigkeiten".

Die Inszenierung Peter Schroths jetzt am carrousel Theater kann ich mit der des Schiller Theaters nicht verglei­chen. Wahrscheinlich hatte der Autor als Regisseur grausame Realität und theatralen Ulk noch drastischer ineinander verschmolzen, als das der tra­gisch-groteske Text vorgibt. Wahrscheinlich hatte er auch deutlicher akzentuiert, daß er Söhne „jenseits von Gut und Böse" pietätlos über ihre Väter nachdenken läßt. Bei Peter Schroth, der Clownerie durch­aus nicht scheut, spüre ich ständig den Respekt vor der eigentlichen Ungeheuerlichkeit der Vorgänge.

KZ-Häftling Puffi wird von hungrigen Leidensgenossen umgebracht, zerstückelt und in einem Kessel gekocht. Nur On­kel, schwarzer Anzug, weiße Handschuhe, die Bühnenfigur des Cornelius Tabori, appel­liert an Menschlichkeit. Verge­bens. Die Mitinsassen der Ba­racke verschwören sich gegen den Juden, werfen ihm vor, ein Messer versteckt zu haben, als

Gelegenheit war, damit ihre Bewacher umzubringen. Als ein Kapo die Häftlinge zum Es­sen zwingt, entscheiden sich die meisten für die „Dusche", das heißt für die Gaskammer. Nur Hirschler (Thomas Pötzsch) und Heltai (Helmut Geffke) es­sen - und überleben.

Peter Schroth bietet keine Gelegenheit, Anwürfe gegen das Stück hinter moralisieren­den Bedenken zu verstecken. „Unanständigkeiten" verfrem­det er gewitzt, macht sie un­auffällig. Auffällig hingegen macht er den Aufschrei, die Anklage, die Mahnung. Betrof­fenheit immer wieder, wenn die Häftlinge im Kampf ums Überleben zu Bestien verkommen. Ohnmacht und Verzweif­lung des Onkels (Thomas Schreyer), Schalk, Empfindsamkeit und Protest des Kochs (Steffen Pietsch), gnadenlose Härte und verfressene Gier des Kapos Schrekinger (Karin Schroth). Insgesamt eine en­gagiert und sehr präzis agierende Truppe. Verdienter Bei­fall.

 

Neues Deutschland, 27. Mai 1994