„Judith von Shimoda“ von Bertolt Brecht am
Berliner Ensemble, Regie Jörg Aufenanger und Judith Kuckart
Okichis Heldentat
Geishas in den Logen des Berliner Ensembles, still schmachtend hinter Gittern. Der Eiserne Vorhang hebt sich, und auch auf der Bühne schmiegen sich anmutige junge Frauen hinter Draht. So der Auftakt zur Uraufführung eines Stücktextes von Bertolt Brecht aus dem Jahre 1940, der aus verständlichem Grund, wie mir scheint, bisher unbeachtet blieb, aber aus Anlaß des 100. Geburtstages des Dichters nun auf die Bühne gebracht wurde.
Dem Emigranten Brecht hatte Hella Wuolijoki,
die Übersetzerin des »Puntila« ins Finnische, eines Tages das Stück »Die Leidensgeschichte
der Ausländerhure Okichi« von Yuzo Yamamoto in die Hand gedrückt, worüber er am
25. September in sein Arbeitsjournal schrieb: »... ein gutes Stück, für das sie
die Rechte hat. Ich entwerfe schnell eine Rahmenhandlung und gewisse
Markierungen anhand der englischen (schlechten) Übersetzung. Das könnte eine
japanische Judith werden, das heißt eine zu Ende erzählte Geschichte der großen
Heldentat.« Sinnigerweise resümierte er am gleichen Tag an gleicher Stelle:
»Was mich lange Zeit behinderte bei der Produktion für die Bühne: Ich war
willens, eine Parabel zu erzählen zur allgemeinen Belehrung, aber nicht, Leben
zu imitieren, wie es sich widerspruchsvoll aufwirft...«
Nun also bewegte Brecht das Schicksal
dieser jungen Japanerin, die 1856 von der Obrigkeit gezwungen worden war, sich
als Konkubine in amerikanische Dienste zu begeben, da die Eindringlinge bei
Verweigerung mit Beschießung ihrer Heimatstadt Shimoda drohten. Ihn reizte der
Widerspruch, daß Okichi nach ihrer »Heldentat« von der Öffentlichkeit bereits zu
ihren Lebzeiten zur Legende verklärt, in Wirklichkeit aber allgemein verachtet wurde
und als Säuferin endete. Doch wieder obsiegten didaktische Ambitionen. Mehr als
eine kurze, obendrein fragmentarisch gebliebene Parabel vermochte er aus dem
Stoff nicht zu fertigen.
Da man jetzt im Berliner Ensemble ein
abendfüllendes Ereignis daraus machen wollte, zumal sich eine Co-Produktion mit
dem Teatro Vascello Rom bot, suchten die Regisseure Jörg Aufenanger und Judith
Kuckart ästhetische Mittel der Dehnung und Streckung. Mit allerhand Imitationen
von Gebärden, wie sie im asiatischen Theater verwendet werden, gaben sie dem
Geschehen zart poetisches Flair. Was auch Hans Werner Henze und Maurizio
Rizzuto unterstützten, die die Musik beisteuerten. Sie zögerten, ein sentimentales
Musical zu machen und lieferten mit Piano, Schlagwerk und Akkordeon
Hintergrund-Sound und Musik für pantomimische Bewegungen und Tänze. Geishas!
Was lag da näher.
Also werden die wenigen Vorgänge
nicht möglichst sinnfällig vorgeführt (etwa die zwangsweise Überstellung der
Okichi in einem Käfig), sondern eher zelebriert und choreographiert. Manche
Tanzeinlagen mit auf stilisierten Kothurnen anmutig sich bewegenden Geishas
scheinen überflüssig. Auffällig sind verschlüsselte Arabesken ums Liebesspiel,
in das Okichi (Lenore Steller) verwickelt wird.
Nun ist der Fall, so tragisch auch
immer, wirklich lange her und inzwischen gar nicht mehr so berührend. Die
Regisseure, die das offenbar spürten, verfremdeten daher aktuell: Ein Handy
schrillt laut. Eine Jungmännerstimme fragt scheinheilig besorgt, ob »sie« es
für eine Million machen würde. »Sie« bejaht, ohne zu zaudern. Tatsächlich. So
läuft das heutzutage, cool und praktisch. Nicht nur in Japan.
Neues
Deutschland, 23. Dezember 1997