„Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal in der
Gedächtnis-Kirche in Berlin, Regie Brigitte Grothum
Ja, wär’ jedermann ein reicher Mann...
Das aus dem Mittelalter überkommene
Mysterienspiel vom „Jedermann", neu inszeniert in der Berliner
Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, kolportiert eine verblüffende Botschaft. Es
verbreitet die Kunde - und Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) bestätigte sie mit
seiner Bearbeitung -, jedermann sei ein reicher Mann. Was bekanntlich überhaupt
nicht zutrifft.
Jedermann weiß vielmehr, daß, seit das Geld die Welt regiert, in Wahrheit nur wenige reich sind, so sträflich viele es mittlerweile auch geworden sein mögen. Die Armen dieser Erde jedenfalls sind in großer, großer Überzahl.
Für die Beladenen war es in vergangenen
Zeiten durchaus ein Akt höherer Gerechtigkeit, wenn der reiche Herr Jedermann,
der den armen Nachbarn und den Schuldknecht verachtete und verspottete, von
Gott mit dem Tode bestraft wurde. Sie waren möglicherweise sogar bereit zu
übersehen, daß dem Herrn Jedermann, sobald er endlich glaubt, großmütig
verziehen wird.
Die naive Religiosität des Stückes,
betont durch altertümelnde Sprache, und seine dubiose Aussage haben
Theaterleute immer wieder gereizt. Max Reinhardt brachte das Werk 1911 im
Berliner Zirkus Schumann zur Uraufführung und inszenierte es danach noch
mehrmals. Vier Inszenierungen leitete Brigitte Grothum bisher in Berlin, auch
diese Inszenierung liegt in ihren Händen.
Die Regisseurin läßt ein aktuelles Vorspiel
einsprechen, einen Agittext zur Situation der Menschheit mit der Frage nach
Rettung. Sie an jedermann zu richten statt an die reichen Mächtigen, von Blech
und Beton zu sprechen statt von Krieg und Hungersnöten ist freilich so zwiespältig
wie das Stück ohnehin.
Die Aufführung ist ein lockeres Ritual. Mit
engagierter Lautstärke wird leider oft über die Gedanken hinwegdeklamiert.
Ezard Haußmann als Jedermann agiert einen eitlen Wohlhabenden, der angesichts
der Armen höhnisch lacht, der - als der Tod nach ihm greift -Momente echten
Empfindens spüren läßt. Brigitte Mira ist eine sanfte, gläubige Mutter, Iris
Berben eine verführerische Buhlschaft, Brigitte Grothum der hehre Glaube.
Wolfgang Grüner gibt den Teufel als kabarettistisch palavernden Opa.
Das ehrgeizige Unternehmen ist demnächst auch
in Potsdam, Neubrandenburg, Rostock, Dresden und Leipzig zu besichtigen.
Neues
Deutschland, 24. Juni 1991