„Der Jasager und der Neinsager“ von Bertolt Brecht im Berliner Ensemble, Regie Peter Zadek

 

 

 

Neu nachdenken in neuer Lage

 

Welch elementare Weisheit steckt in einem Lehrstück Bertolt Brechts. Peter Zadek hat jetzt am Berliner Ensemble mit einer poetischen, zauberhaft naiven Inszenierung die Kombination „Der Jasager und der Neinsager" aus dem Jahre 1930 für zeitgenössisches Theater wiederentdeckt. Fast schienen die Vorgänge zu simpel (weil gedacht und geschrieben ja eigentlich für Laienspieler), aber unter Zadeks Händen hatte Brechts Lehre wenig „Didaktisches", dafür viel Anregendes. Beifall auf offener Szene für den Vorschlag, sich nicht der Konvention zu beugen, sondern einen neuen Brauch einzuführen, nämlich „in jeder neuen Lage neu nachzudenken".

Brecht hatte das mit seinem Opusculum vorgemacht. Als er marxistische Studien trieb und mit episch verfremdeten Stücken experimentierte, war ihm ein Text des japanischen No-Theaters in die Hände gekommen, das Stück „Taniko" („Der Wurf ins Tal") von Zenchiku (1405 bis 1468). Ein Knabe schließt sich der Wallfahrt einer buddhistischen Sekte an, um für seine kranke Mutter zu beten. Als er unterwegs erkrankt, fehlt ihm die Reinheit für die Fahrt, und er muß, wie das der Ritus verlangt, ins Tal zu Tode gestürzt werden. Brecht säkularisierte die Vorgänge, machte daraus den „Jasager", einen Knaben, der mit einer Forschergruppe über die Berge ziehen will, um für seine kranke Mutter Arznei zu holen. Als er selbst erkrankt, den anderen zur Last wird, erklärt er sich damit einverstanden, sich - wie es Brauch ist - vom Felsen stürzen zu lassen.

Nach der Aufführung im Juni 1930 im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin wurde der Jasager von der Kritik mit den Jasagern während des Krieges verglichen. Und ein Schüler der Karl-Marx-Oberschule in Berlin-Neukölln monierte in einer Diskussion, daß dem alten Brauch kritiklos gefolgt wurde. Daraufhin änderte Brecht den Text um in den „Neinsager", worin der Knabe bekennt, daß, wer a gesagt hat, nicht zwangsläufig auch b sagen müsse. Im Gegenteil: „Er kann auch erkennen, daß a falsch war." Und solch vernünftiges Verhalten ist zwar nicht heldenhaft, wird gar mit Gelächter und Schande überhäuft und bedeutet viele Schritte zurück, aber es ist die Entscheidung für das Leben und zu neuem Denken.

Ein Stück, zeigt sich, so recht gemacht für die gebeutelten, mit Schmähungen überschütteten Ossis. Hier hat ein erfahrener Mann des Theaters den Finger auf den Wunden der Zeit. Und seine Akteure engagieren sich mit schöner Sorgfalt in freundlich darlegender Spielweise. Hermann Lause gibt den zur Forschung ausziehenden Lehrer als einen bedächtigen Mann mit schlohweißem Bart, der Konvention vertritt, so sie eben Brauch, der aber auch noch rege genug ist, aus neuer Situation brauchbare Schlüsse zu ziehen. Eva Mattes ist die geduldige, großzügige Mutter. Uwe Bohm spricht locker und zeitfühlig den einführenden und kommentierenden Text des „großen Chores". Vorzüglich Olaf Steingräber als Knabe. Die drei Studenten, mit Schmetterlingsnetz der eine und rotem Büchlein die anderen: Georg Bonn, Patrick Lanagan und Margot Vuga.

Gespielt wird auf einem Podest vor der Dekoration zu Zadeks Inszenierung „Das Wunder von Mailand". Auch das ein Akzent, der hoffen läßt, daß am Berliner Ensemble Brechts revolutionierende Ideen eine Renaissance erleben.

 

 

Neues Deutschland, 20. Dezember 1993