8. Der neue Darsteller (1951 –1962)

 

 

 

 

8.11  Die vornehme Isolation ist gebrochen

 

Angeregt durch die neue Situation an der Schauspielschule und durch eine Diskussion über Nachwuchsausbildung in der Fachzeitschrift «Theater der Zeit» holten 1961 Stefan Lisewski und Hans-Georg Simmgen, (zwei ehemalige Absolventen, inzwischen Schauspieler am Berliner Ensemble) Überlegungen aus dem Jahre 1957 an die Öffentlichkeit, «da sie damals aus genauer Kenntnis der Schulsituation entworfen, Ergebnis kollektiver Bemühungen von einigen Lehrern und Schülern waren, die Produktion der Schauspielschule auf wissenschaftliche, das heißt marxistische Basis zu heben.» (8.138) Solch streitbare Publikation war ungewöhnlich.

Unter dem Titel «Veraltete Vorschläge?» schrieben Lisewski und Simmgen: «Die vornehme Isolation der Schule ist gebrochen und damit etwas verwirklicht, was in den "Vorschlägen" so formuliert war: "Das Fernbleiben der Politik von der praktischen Arbeit verhindert auch, daß der Marxismus Einfluß auf die individuelle Haltung der Schüler nimmt. Wo aber die alltägliche Arbeit unpolitisch bleibt, muß zwangsläufig die Haltung zu wichtigen politischen Fragen außerhalb der alltäglichen Arbeit unpolitisch bleiben.» (8.139)

 

 

lisewski,stefan          simmgen,hans-georg

Stefan Lisewski                              Hans-Georg Simmgen

Absolvent 1957                               Absolvent 1958

 

 

Sie berichteten über ein Vorsprechen des dritten Studienjahres, das vorwiegend Szenen aus Stücken von Bertolt Brecht gearbeitet hatte — «ein vor drei Jahren kaum möglicher Vorgang. Brecht galt noch als terra incognita und wurde für die Entwicklung handelsüblicher schauspielerischer Mittel für unbrauchbar gehalten.» (8.140) Sie argumentierten, die Vorschläge zitierend: «Nach unserer Meinung liegt der Grundfehler in der Arbeit der Schauspielschule in der Trennung der politischen Arbeit von der fachlichen. Ein großer Vorzug des Marxismus, in jeder künstlerischen Situation zu richtigen, daß heißt zu richtigen politischen und künstlerischen Lösungen zu verhelfen, die ein Nichtmarxist nicht zu finden imstande ist, bleibt dadurch unausgenützt.» (8.141)

Und nun belegten sie ihre Behauptung mit konkreten Beispielen, von denen eines ausführlich zitiert sei, weil hier im Vorschlag die neue Qualität von Schauspielkunst sichtbar wurde, um die nun bereits Absolventen der Schule rangen. Sie schrieben: «Zum Beispiel erweist sich die auf marxistischen Erkenntnissen basierende Darstellung des Ruprecht im "Zerbrochenen Krug" nicht nur als richtiger, sondern auch als schauspielerisch ergiebiger.

In der üblichen Weise wird er so dargestellt: Ruprecht, ein nicht sehr gescheiter Bauernbursch, aber mit dem Herzen auf dem richtigen Fleck, verlangt randalierend und poltrig von den Richtern sein Recht und bekommt es schließlich. Weil er ein Bauer ist, was dann so viel heißt wie grob, gewalttätig, ungeschlacht, geht Ruprecht am Ende auf den Richter los, wobei es in dieser Darstellung gleichgültig bleibt, ob diese Prügelei im Gericht oder im Wirtshaus stattfindet.

Eine auf marxistischen Erkenntnissen basierende Darstellung sieht so aus: Ruprecht, Bauernsohn und Produkt seiner Erziehung, erscheint zum erstenmal vor Gericht. Die ihm eingeprügelte Unterwürfigkeit läßt ihn in aller Hilflosigkeit die Vorgänge der Nacht berichten. Er tut das in einer von Kleist wunderbar verschnörkelten Sprache, die er niemals im Alltag sprechen würde, die er eben nur vor den Schranken des für ihn allgewaltigen Klassengerichts spricht. Unter Katzbuckeln, ausgesetzt der Denunziation seines Vaters, unter Schweiß und dauernder Einschüchterung durch den Richter, bringt er seinen Bericht zu Ende. Im Gegensatz dazu benimmt er sich der Eve gegenüber schon als herrschender Familienvorstand, das heißt grob, unverschämt, despotisch. (Für den Schauspieler eine ergiebige Aufgabe, beide Seiten deutlich und als großen Widerspruch der Zeit zu zeigen.) Am Ende geht er bewunderungswürdig über seine eigene Klassenbeschränktheit, wenn auch vielleicht nicht voll bewußt, hinaus. Trotz des gewohnten Katzbuckelns, trotz der Denunziation seines Vaters, trotz der Einschüchterung durch den Richter, überspringt er die Schranken der Klasse, in diesem Fall die Schranken des Gerichts, und verschafft sich auf eigene Faust beinahe Gerechtigkeit. Um wieviel interessanter und wirkungsvoller ist es zu zeigen, daß ein Mensch nicht Gewalt anwendet, weil er gewalttätig von vornherein oder von Natur aus ist, sondern daß er trotz Einschüchterung durch das Klassengericht, trotz Erziehung zum Untertan, sich zur Gewaltanwendung auf Grund konkreter Vorgänge zwingt. Das ist ein Beispiel, daß der Marxismus, konkret angewendet, allen bürgerlichen Auffassungen an direkter theatralischer Wirkung überlegen ist.» (8.142)

Die überzeugende ästhetische Analyse der Szene verrät das – übrigens damals wie heute  - außergewöhnliche Engagement der jungen Künstler am Berliner Ensemble. Stefan Lisewski hat die Vorzüge einer sozial-konkreten Spielweise in vielen Rollengestaltungen am BE belegt, u.a. als O’Killigan in O’Caseys „Purpurstaub“, als Macheath in Brechts „Dreigroschenoper“, als Gleb Tschumalow in Heiner Müllers „Zement“. Und Hans-Georg Simmgen, erfolgreich mit seiner Inszenierung des „Purpurstaub“ von O’Casey 1966 am Berliner Ensemble, hat seine sensible, sozialkritisch genaue Handschrift als Regisseur in vielen Arbeiten im In- und Ausland unter Beweis gestellt, nicht zuletzt auch als Dozent an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin.

Zu den mittlerweile prominenten Absolventen des Zeitraumes bis 1962 gehören Hildegard Alex (Volksbühne Berlin), Barbara Bachmann (Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin), Marita Böhme (Staatsschauspiel Dresden), Bärbel Bolle (Deutsches Theater Berlin), Eckhard Bogda (Volksbühne Berlin), Kaspar Eichel (Fernsehen der DDR), Karin Gregorek (Maxim Gorki Theater Berlin), Siegfried Höchst (Regisseur, Volksbühne Berlin), Ursula Karusseit (Volksbühne Berlin), Heide Kipp (Volksbühne Berlin), Jurij Kramer (Regisseur), Manfred Müller-Kuhl (Halle), Horst Rehberg (Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin), Hans-Peter Reinecke (Berliner Ensemble), Kati Szekely (freischaffend) und Werner Tietze (Regisseur, Volksbühne Berlin).

 

 

 

kipp  böhme  karusseit

Heide Kipp                         Marita Böhme                  Ursula Karusseit

Absolventen 1961                                                      Absolventin 1962

 

 

            tietze,werner_a     müller-kuhl,manfred

Werner Tietze                       Manfred Müller-Kuhl

 

 

 

 

 

Anmerkungen:

 

8.138  Stefan Lisewski/Hans-Georg Simmgen, Veraltete Vorschläge?, Theater der Zeit, Berlin 1961, Heft 5, S. 42    Zurück zum Text

8.139  Ebenda    Zurück zum Text

8.140  Ebenda    Zurück zum Text

8.141  Ebenda    Zurück zum Text

8.142  Ebenda    Zurück zum Text

 

 

 

 

Weiter zu „Das Berliner Ensemble im Weltruhm“