„Iphigenie auf Tauris“ von Goethe im Schiller-Theater Berlin, Regie Alexander Lang

 

 

 

Ein naives Geschöpf

 

Noch eben hat der Taurierkönig Thoas die bei ihm eingefallenen Griechen ungerupft davonziehen lassen, auch Iphigenie, die er abgöttisch liebt. Aller Konflikt löst sich wunderbar friedlich. Plötzlich huscht Pylades noch einmal heran, besticht den Arkas mit einem Funksprechgerät, mopst die Statue der Diana und verschwindet.

Für solche verschmitzt kommentierende Spieleinfälle ist Regisseur Alexander Lang immer gut. Nimmt er damit in seiner Inszenierung der „Iphigenie auf Tauris" im Schiller Theater die Menschlichkeits-Botschaft des geheimen Rates aus Weimar zurück? Mitnichten. Aber er relativiert. Lang läßt deutlich die Versöhnung spielen zwischen dem geheilten Muttermörder Orest und dem empörten, aber eben lebenden Thoas. Iphigenie vermittelt. An viereckigem Tisch wird verhandelt und, in diesem seltenen Fall, auf Menschenopfer verzichtet. Doch der Regisseur zeigt eben auch, wie weltfremd diese Entscheidung letztlich war, eine Hoffnung, die von der Geschichte längst als idealistisch zu den Akten gelegt wurde, also im Theater nicht unkritisch pathetisch behauptet werden kann. Insofern besetzte Lang die Heldin mit der zarten, schlanken Kindfrau Gunda Aurich, machte er schon die Trägerin und Agitatorin des schönen Ideals zu einem naiven Geschöpf.

In ein schützendes goldenes Manteltuch gehüllt tritt Iphigenie scheu aus ihrem Tempel. Die ehemalige Opferstätte ist von Caroline Neven du Mont als eine zerklüftete rotbraune Grotte auf die Bühne gestellt. Ringsum liegen noch die Gebeine der Gemordeten. Iphigenie hockt sich nieder, spricht verhalten-zutraulich ins Publikum, als suche sie dort insgeheim Verständnis. Auch später sucht sie immer wieder Partnerschaft beim Publikum, obwohl sie mit Arkas (Horst Stenzel), dem aristokratisch-glatten Diener, durchaus vertraut scheint.

Thoas steigt aus der Tiefe auf, martialisch gerüstet mit einem Schwert. Der junge König (Benno Irland) ist unruhig wie bei einem allerersten Rendezvous. Mit einer kostbaren Perlenkette wirbt er um Liebe. Doch diese Iphigenie hat Sinne noch gar nicht fürs andere Geschlecht. Sie lebt kindlich-einfältig ihrem Götterdienst. Die mörderische Geschichte des Atriden-Geschlechts berichtet sie gar mit Stolz. Thoas lächelt. Fast scheint der Barbar die starre Hohlheit solch mythischen Engagements zu durchschauen. Hart fordert er neuerlich zu opfern.

Angekettet werden die Griechen aus dem Kerker emporgefahren. Der zum Tode bereite Orest (Sebastian Koch), der immer muntere Geselle Pylades (Matthias Redlhammer). Beide berühren sich gelegentlich wie homoerotisch. Orest hat eine dünkelhafte Unbedingtheit. Er gäbe gewiß einen zynischen Tyrannen ab. Doch mit den Vätern, zum Publikum tretend, hadert er in Groll und Verachtung. Redlhammers sprecherische Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft scheint mir freilich etwas diffus.

Ansonsten viele anschauliche Vorgänge. Das hehre Versdrama zum plastischen Schauspiel erhöht. Alexander Längs szenische Phantasie bedient hervorragend die Fabel, die er gestisch beredt erzählt und zugleich keck ironisiert. Da ist er sich treu, aber gelöst, heiter, ohne Manier. Und mutig in seinem Vertrauen auf junge Darsteller.

 

 

 

Neues Deutschland, 3. Juni 1991