„Iphigenie“ von Goethe und „Gothland“ von
Grabbe am Deutschen Theater Berlin, Regie Alexander Lang
Theatralisches Bekenntnis zu aktivem
Humanismus
Nacheinander, an zwei Abenden, Premieren am Deutschen Theater: Christian Dietrich Grabbes monströses Trauerspiel „Herzog Theodor von Gothland" und Johann Wolfgang Goethes optimistische Tragödie „Iphigenie auf Tauris". Regisseur Alexander Lang ruft beide Dichter als Partner an im Ringen um Frieden und Humanismus. Am Beginn des 19. Jahrhunderts fragen sie in ihrer Zeit und aus unterschiedlicher Sicht nach Menschlichkeit.
Grabbes „Herzog Theodor von Gothland",
1820/22 geschrieben, ist sein erstes dramatisches Werk. Ein vorweggenommener
Horrorfilm, allerdings von behäbig-schwülstigem Pathos. Grabbe ahmte
Shakespeare nach, kannte zumindest „Othello", kam aber über die rüde
Machart von spektakligen Räuber- und Ritterstücken nicht hinaus. Was er schaffte:
Jugendlich-respektlos brandmarkte er einen amoklaufenden Feudalfürsten, auf
eben überwundene napoleonische Aggressionslust zielend. Herzog Gothland,
schwedischer Heerführer, redet von Menschlichkeit. Konfrontiert mit der simplen
Intrige eines finnischen Feldherrn, Berdoa, beruft er sich jedoch auf
königliche Rechte, auf Willkür, Gewalt, Völkermord — und handelt danach. Nur
einer, sein Sohn Gustav, nennt ihn offen Brudermörder, Usurpator. Doch Gothland
hat alle Vernunft verloren und eskaliert die wüste mittelalterliche
Schlächterei. Norwegische, russische und deutsche Feudalfürsten vereinigen sich
schließlich siegreich gegen den Kriegstreiber.
Alexander Lang hat Grabbes erfundene
Geschichte bearbeitet und mit Volker Pfüller (Bühnenbild und Kostüme) und
Wolfgang Utzt (Maske) klar und distanziert in eine Kunstwelt gerückt. Die Erhebung
der Völker macht er nicht deutlich. Immerhin formiert der Dichter eine ernst zu
nehmende Front gegen die Schlächter Gothland und Berdoa. Doch Ernsthaftigkeit
billigt Lang den Feudalen nicht zu. Er zeichnet das Ende einer untergehenden Klasse
— der Verlust jeglicher menschlicher Vernunft zeitigt ihren Untergang. Der
siegende König Olaf wird komischer Kritik ausgeliefert. Und der mit ihm kämpfende
alte Gothland wird zum störrisch-geifernden Greis.
Der Regisseur führt uns das Grauen vor, aber
er will nicht, daß wir uns fürchten. Er macht kein Schock-, er macht ergötzendes
Theater. Wenngleich Details zuweilen in Kitsch wegzukippen drohen, ist das
alles von berückender Theatralik.
Es agieren wundervolle Theaterbösewichte.
Christian Grashof gibt den Herzog einfältig genug, um für Intrigen anfällig zu
sein. Glänzend sein romantisch-stupides, gewichtiges Gebärdenspiel. Wenn er
bedeutungsschwanger einherschreitet und salbungsvoll argumentiert, dann ist das
so manierlich wie possierlich. Dieter Montag als Berdoa ist von leichtfüßiger
Beweglichkeit, strohtrocken im Argument. Michael Gwisdek hervorragend als alter
Gothland. Ganz nebenher ist das eine herrliche Parodie auf alte Theaterbarden,
ansonsten ein sarkastisch-entlarvendes Bild der hysterischen Rechthaberei auf Schlachtenruhm
bedachter Feudalherren.
Am zweiten Abend „Iphigenie auf Tauris".
Alexander Lang enthüllt Goethes hehres poetisches Denkmal tätiger Humanität als
Profanbau. Und rückt es uns nah. Ihm gelingt, das reiche innere Leben der
Figuren nach außen zu holen, indem er die edlen Verse mit realistischer Radikalität
aufrauht. Großen Anspruch paart er mit gewöhnlicher Sachlichkeit,
lebenskräftig, heiter, direkt.
Die Iphigenie Katja Parylas ist ganz und gar
unheldisch, eher häßlich zunächst, so daß des Königs Thoas (Roman Kaminski)
Liebe nicht recht glaubhaft scheint. Vielseitig in ihren Ausdrucksmitteln, wird
sie selbstbewußt in den harten Disputen mit Arkas (Peter Reusse), dann ein kämpfendes
Weib, aufblühend jung, wenn sie Thoas umzustimmen sucht. Irrsinnig taumelt sie vor
Glück, als der König sie freigibt. Kein verklärter Schluß, vielmehr neue
Kraftproben ahnen machend.
Der Einfall des Abends: Orest (Kurt Böwe) und
Pylades (Dietrich Körner) treten als jovial-dickleibige Herren auf, modisch
schick in der Kleidung, arrogant in der Haltung. Sie kommen mal schnell aus
Griechenland, um den Barbaren das Göttinnen-Standbild zu entwenden. Und sie
bringen eine kraftvolle, konkrete Rhetorik mit, die unter die Haut geht.
Großes, ergreifendes Pathos, hier ist es wieder und neu, nie hohl, stets gefüllt
mit der kantigen Plastizität des Gedankens. Und Komik ist da in der Diktion wie
im Spiel. Wenn Pylades sich das Standbild schultert, ist das solch Moment, wo
keck Profanes sichtbar gemacht wird.
Zwei sehenswerte, hochtheatralische Abende.
Neues
Deutschland, 1. Oktober 1984