„Iphigeneia“ von Jochen Berg im
Deutschen Theater Berlin, Regie Frank Lienert
Heimatlose Iphigeneia in nachtdunklem Garten
Als sich Iphigenie (Petra Hartung)
unter der Linde niedersetzte, kam Wind auf im Garten des Deutschen Theaters in
Berlin. Dort stellte Frank Lienert zum Spielzeit-Auftakt Jochen Bergs
Neufassung des alten Themas vor. Der Reiz des Fleckchens Natur, einschließlich flatternder
Fledermaus, verhalf diesem Schauspiel „Iphigeneia" zu ungewöhnlicher
ästhetischer Wirkung. Doch wie der Wind nur zu lauer Brise auffrischte, so
blieb auch das Spiel im Hain moderato. Trotz Theatralik.
Euripides und Goethe haben den Stoff aus mythischer Vorzeit, das Schicksal Iphigenies aus dem fluchbeladenen Atriden-Geschlecht, gültig ausgeschöpft. Das hehre Lied sieghafter friedlicher Menschlichkeit läßt sich besser kaum anstimmen. Was Jochen Berg ambitioniert nachliefert, ist zeitgenössisch respektabel, sprachlich ausdrucksvoll und nachvollziehbar, literarisch indessen ohne Glanz und Dynamik. Der Fall wird halt noch einmal abgehandelt. Mit neuem Schluß allerdings.
Thoas, der König der Taurier, bleibt
hart gegenüber Iphigenie. Ihre unbedingte Wahrheitsliebe stimmt ihn nicht um.
Als ihm aber Barbas, ein mutiger Hirte (Lutz Schneider gibt ihn als wackeren
Mann, nicht als Unterdrückten), des Volkes Meinung über seine miese
Regentschaft vorträgt, lenkt er ein. Um an der Macht zu bleiben und zu feiern.
Einigermaßen überraschend diese
idealistische Hoffnung des Autors. Tyrannen, auch die der Neuzeit, zeigen
Nachgiebigkeit gegenüber des Volkes Stimme bekanntlich ganz und gar nicht. Die
offenbare dramaturgische Klippe versucht der Regisseur zu umschiffen. Er stellt
die Figuren als Schatten vor eine gleißend helle Wand, türmt sich laut
steigerndes Getöse darüber, bricht das Spiel abrupt ab. Finsternis. Aus. Nicht
Harmonie signalisiert er am Ende, sondern Dissonanz.
Petra Hartung, schön von Gestalt,
hatte die stimmliche Kraft leider nicht, die Figur im offenen, sehr nachtdunkel
gehaltenen Raum durchzusetzen. Bergs Iphigenie hat mit Griechenland, ihrem
Vaterland, wo Willkür herrscht, gebrochen. Aber im Land der Taurier, der
Barbaren, wo sie als Herrin von Dianens Tempel residiert, ist sie die Fremde
geblieben. Sie ist heimatlos, sehnsuchtslos, illusionslos. Und dem König, mit
dem sie schläft, glaubt sie nicht. Seine Liebe hält sie für nächtlichen Gebrauch.
Ein zerstörter Mensch ist dieses einsame Weib. Es müsste deutlich aufleben, als
das Ungeheure geschieht, nämlich der Bruder auftaucht, irre zwar, aber der Bruder.
Hier bleiben Regie und Schauspielerin
theatralisch äußerlich, stoßen nicht zur eigentlichen Tragik vor, schöpfen den
Text nicht aus. Selbst wenn man zugibt, daß der Raum, auch die ungünstige Ausleuchtung,
möglicherweise diese oder jene Nuance verschluckt. Kräftig anwesend ist Manfred
Möck als Thoas, freilich lediglich rhetorisch. Kay Schulze gibt den irren Orest
kauzig-verspielt als ein glatzköpfiges Bübchen, Uwe Dag Berlin den Pylades mal
besonnen, mal hektisch.
Zeichen der Zeit in Deutschland sind
Haß und Gewalt gegenüber Fremden. Gut, wenn das Theater dazu seine
humanistische Stimme erhebt. Beifall.
Neues
Deutschland, 4. September 1992