„In Sekten“ vom Theater Neumarkt Zürich, Regie Volker Hesse

 

 

 

 

Was soll ich denken müssen?

 

Das ist neu: Der Zuschauer darf den Spielraum mit Schuhen nicht betreten. Hat man sie beim Personal gegen einen Coupon abgegeben, wird man mit äußerster Höflichkeit ganz persönlich per Handschlag empfangen und kann sich einen Sitz aussuchen. Die umschmeichelnde Begrüßung hat einen Touch marktwirtschaftlicher Scheinheiligkeit. Wie das so zu sein pflegt, wenn potentielle, zahlende Kunden umworben werden. Hat man erst einmal Platz genommen, erkennt man, daß die vorn auf dem Podest hin- und herschreitende hübsche junge Dame nichts anderes ist als eine Aufsichtsperson, die die Kandidaten der bevorstehenden Sitzung strengen Blickes mustert und damit einschüchtert. Sodann sieht man rechts im Hintergrund einen jungen Mann, der mit verkrampfter, krankhafter Energie gestikulierend ununterbrochen wie eine willenlose Maschine auf einen Stuhl und wieder heruntersteigt.

Schon mit diesem Auftakt vermitteln die Schauspieler vom Theater Neumarkt Zürich eine recht aufschlußreiche Ahnung vom Ausgeliefertsein eines Menschen in einer Sekte. Aufgeschreckt vom verbrecherischen Treiben solcher Vereinigung in der Schweiz, sind die Ensemble-Mitglieder aktuellen Fragen nachgegangen. Etwa dieser: Warum hat die Anzahl von Sekten und ihren Mitgliedern in der heutigen westlichen Zivilisation zugenommen? Aus Gesprächen mit Sektenmitgliedern und ehemaligen Anhängern entwickelten sie unter Leitung Volker Hesses ihr Projekt „In Sekten“. Kein Stück im eigentlichen Sinne. Eine lockere Folge von Spielszenen. Sie machen erfahrbar, wie Menschen in eine Sekte geraten können, wie sie sich vor sich selber rechtfertigen, wie sie sich im Grunde selbst aufgeben, demütigen, manipulieren und sich suggerieren lassen, sie seien frei. Was dann heißt, daß sie verzweifelt fragen: „Was soll ich denken müssen? Was soll ich sehen wollen?"

Die Züricher warnen mit ihren Vorführungen. Hanspeter Müller als windiger, höflicher, dann aber auch haßerfüllter Dummenfänger Streuli; Susanne-Marie Wrage als herzig­naives Mädel Mechthild aus dem Schwarzwald, das sich in Kanada einfangen ließ; Isabelle Menke als von der Sekte gepeinigte, geistig zerstörte Mutter Jenny; Volker Lösch als kaputter, verzweifelt seine Entscheidung verteidigender intellektueller Wittich; Jan Ratschko als verstörter, schließlich total durchdrehender junger Mann Hauke; Bernhard Bettermann als den Guru vergötternder Lou Light, als ein Kölner; dem der Sekten-Gott bei einer Großveranstaltung innerhalb von zehn Sekunden eine Frau aus Bombay als Eheweib zuführte.

Nackte Tatsachen. Durchaus mit einer gewissen ironischen Distanz der Spieler geboten. Ursachen für die irre Sekten-Gläubigkeit werden kaum aufgespürt. Dennoch ahnt man schließlich mit ziemlicher Gewißheit: Schuld an der eskalierenden Anfälligkeit von Menschen für die Selbstaufgabe in einer Sekte ist die Schizophrenie der modernen Gesellschaft, ist die Entfremdung in dieser käuflichen Welt. Da die kapitalistische Sozietät dem Menschen geistige Heimat nicht sein kann, da sie ihm keine Hoffnung auf Zukunft zu geben vermag und ihn geradezu systematisch vereinzelt und vereinsamt, sucht er Trost und Geborgenheit in obskuren Gemeinschaften, wobei er im besten Falle glaubt, mit seinem Tun zu helfen, Welt und Menschheit zu heilen und zu retten. Seit dem Giftgas-Anschlag in Japan läßt sich vermuten, wie das eigentlich gemeint sei könnte...

Zurück nach Zürich. Nachdem die Schuhe des Publikums bei den zeremoniellen Verrichtungen eine gewisse, offenbar geheiligte Rolle gespielt haben, werden sie schließlich wieder freigegeben. Sie sind nicht verhext worden. Ich bin jedenfalls gesund zu Hause angekommen. Denke ich. Und sage: Immerhin ein Theater, das mit so etwas wie einer Botschaft zum Theatertreffen angereist war.

 

 

 

Neues Deutschland, 22. Mai 1995