Vorwort
zu „Improvisation und Schauspielkunst“
von Gerhard Ebert
Wenn zwei Schauspieler zu beschreiben
versuchen, wie sie auf der Bühne oder vor der Kamera arbeiten, äußern sie in
der Regel höchst unterschiedliche Auffassungen. Vermutlich existieren so viele
Ansichten über den Beruf, wie es Schauspieler gibt. Fügt ein Regisseur seine
Meinung hinzu, werden die Unterschiede noch auffälliger. Zwar um
Verallgemeinerung bemüht, vertraten bzw. vertreten prominente Theatermacher wie
Stanislawski, Brecht, Grotowski, Brook oder Strasberg prononciert ihre
individuelle Sicht.
Unter Beachtung subjektiver Doktrinen kam es
mir darauf an zu erkunden, ob es für die Schauspielerei objektive Kriterien
gibt, ihr also ganz bestimmte Gesetzmäßigkeiten innewohnen. Der originäre
Schöpfungsakt des Schauspielers wurde bislang wissenschaftlich kaum erforscht.
Eben dies unternahm ich mit vorliegender Studie, und zwar zweifach.
Schauspielen als künstlerische Tätigkeit untersuchte ich erstens in deren
historischen Entwicklung und zweitens im Laboratorium, nämlich anhand der
Ausbildung.
Dass ich meinen Gegenstand vornehmlich in der
pädagogischen Praxis aufsuchte, mag den Leser irritieren. Aber eine Schule ist
für praktikable Erkenntnisse über die Kreativität des Schauspielers ein sehr
geeigneter Ort. Dort nämlich ist die Genesis zu beobachten, dort wird – sofern
keine Scharlatane am Werk sind – das Schauspielen als Arbeit erlernt und
trainiert. Hier mit der Erkundung anzusetzen, war daher sehr naheliegend.
So ist vorliegende Veröffentlichung
entstanden, von 1973 bis 1977 erarbeitet als Hochschulschrift der
Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel "Die Improvisation als
Element der schauspielmethodischen Grundausbildung von Schauspielern".
Beobachtet und untersucht wurde im nämlichen Zeitraum der Unterricht an der
damaligen Schauspielschule Berlin, einer Fachschule, die 1981 zur Hochschule
für Schauspielkunst "Ernst Busch" umgebildet wurde.
Die Konzentration auf die Improvisation, und
zwar a priori, war kein Zufall. 1964 hatte das Internationale Theater-Institut
sein Symposium in Bukarest speziell der Improvisation als einem wesentlichen
Bestandteil schauspielpädagogischer Ausbildung gewidmet. Zum Thema "Die
Rolle der Improvisation bei einer lebendigen Charakterdarstellung" sprach
V.O.Toporkow aus der Sowjetunion. Über "Die hauptsächlichsten Gesichtspunkte
des Schulungsprozesses des Schauspielers. Die Rolle der Improvisation in diesem
Prozeß" referierte G.D.Loghin aus Rumänien. Und zum Thema "Die
Improvisation als ein Mittel zur Entwicklung der physischen und psychischen
Fähigkeiten des Schauspielers" sprach Sain Denis aus Frankreich, Präsident
der Berufskommission des ITI. Seither genießt die Improvisation einen
geachteten Platz im Ausbildungsprozess vieler Schauspielschulen, wenngleich ihr
Stellenwert und ihr Wesen nach wie vor sehr unterschiedlich begriffen werden.
Impulse für die Untersuchung der
Improvisation gab auch das Studium deutscher Theatergeschichte. Die Intentionen
Eduard Devrients in seiner Schrift "Über Theaterschule" zum Beispiel
zählen durchaus zu einem Erbe, das es zu erschließen und zu bewahren gilt. 1846
beklagt sich Devrient darüber, dass es allein der Schauspieler sei, "der
wild aufwachsen muß". Und er konstatiert: "Die Theaterschule könnte
durch ihre Anweisung den Geringbegabten in Übereinstimmung mit dem Höchstbegabten
setzen..." "...ja es leuchtet ein, dass selbst das größte Genie ohne
diese Förderung niemals den höchsten Grad seiner Trefflichkeit erreichen
kann." Bei Eduard Devrient findet sich der Hinweis auf die Improvisation
als Element der Ausbildung von Schauspielern: "Um die Zöglinge zu
selbstschöpferischer Tätigkeit anzuregen, würde es zweckmäßig sein, sie zur
Darstellung von Szenen, dann von kleinen Stücken aus dem Stegreife anzuleiten.
Dies ist vielleicht das wirksamste Mittel, die Eigentümlichkeit der Talente zu
völlig freier Entwicklung zu bringen." Damit bestimmte Devrient schon
damals ein entscheidendes Kriterium für jegliche Theaterschule: Sie muß die Eigentümlichkeit der Talente zu völlig freier Entwicklung bringen.
Eine in Kenntnis des Wesens schauspielerischer
Kreativität konzipierte und praktizierte Ausbildung ist leichter erreichbar als
die Umsetzung dieser Kenntnis in die Theaterpraxis. Der Widerspruch zwischen
Schulen, in denen sich die Eigentümlichkeit des Talentes frei entwickeln kann,
und Theatern, in denen sich das Talent in überkommen-konventioneller Weise erst
einmal dem Diktat der Regie zu beugen hat, wächst seit Jahren.
Weil von Regisseuren zunehmend eher primitive
Verstellerei statt differenziertes Schauspielen inszeniert wird und Figuranten
gedrillt, statt Figuren-Spieler entwickelt werden, ist es für Darsteller und
insbesondere die, die es werden wollen, geradezu überlebensnotwendig geworden,
den schöpferischen Kern ihres Berufes zu kennen.
Insofern kann vorliegende Publikation, die
ein wissenschaftlich begründetes, von zeitflüchtigen Moden unabhängiges Angebot
macht, für Anfänger wie für gestandene Schauspielerinnen und Schauspieler eine
wertvolle Hilfe sein. Die erfreulich wachsende Zahl derer, die sich für Wissen
über die Eigenart ihres Berufes interessieren, stimulierte den Henschel Verlag
zur 4.Auflage dieser Schrift.
"Improvisation und
Schauspielkunst", das sei für den geneigten Leser abschließend angemerkt,
ist die theoretische Basis für die praktisch-methodischen Empfehlungen im
Handbuch "Schauspielen".
Berlin 1999