„Der Hungerkünstler geht“ von Tadeusz Rózewicz in DDR-Erstaufführung am Hans-Otto-Theater Potsdam, Regie Rolf Winkelgrund

 

 

Ein „Hungerkünstler“ im Drahtkäfig

 

 

Auftrieb an unseren Bühnen für den polnischen Teatro-dell'arte-Zauberer Tadeusz Rózewicz? Nach Leipzig („Er geht aus dem Haus") brachte das Hans-Otto-Theater Potsdam sein Stück „Der Hungerkünstler geht" für die DDR zur Erstaufführung. In Rolf Winkelgrunds Inszenierung sitzt das Publikum auf der Bühne unmittelbar dabei. Zunächst gibt der Hungerkünstler (Klaus-Dieter Klebsch) ein Interview, souverän, geschäftsmäßig, von der Journalistin spöttisch ironisiert. Dann setzt er sich in seinen Drahtkäfig. Und nun interessiert sich keiner mehr für ihn, nicht die Touristen, nicht die Tagediebe, nicht die Mamas mit ihren Kindern, auch nicht die Sportler, nur noch das Publikum — und die Frau des Impresarios, die ihre inbrünstige Liebe für ihn entdeckt. Aber er weist sie ab. Was bio-logisch ist. Am 40. Hungertag öffnet ihm der Impresario (Hansjürgen Hürrig) den Käfig. Nun soll der Hungerkünstler essen, mit Musik und wiederum zur Volksbelustigung. Aber er verweigert sich hartnäckig, eigensinnig auch jetzt...

 

Wunderliche Vongänge! Rózewicz war — wie er bekennt — ziemlich unsicher bei der Verarbeitung von Franz Kafkas (1883—1924) Erzählung für das Theater. Bei Kafka stirbt der einst von der Menge verwöhnte Hungerkünstler, er erliegt seiner eigenen fanatischen Maßlosigkeit. Das ist von poetischer Konsequenz. Bei Rózewicz aber geht er! Will er seine überzogene Arroganz andernorts pflegen? Bei Winkelgrund hinwiederum geht er nicht! Er nimmt Im leeren Parkett Platz. Er bleibt unter uns, wenn auch distanziert. So ist die Ausdeutungs-Lust des Zuschauers mehrfach herausgefordert.

 

Man mag sich streiten, ob derlei seltsames und sich obendrein bedeutungsschwer gebendes Theater irgendwie vergnüglichen Sinn hat. Ich halte die Zuschauer nicht für unanständig, die sich wenigsten« einen gewissen Vers auf das Ganze zu machen versuchen, also theatralisches Versteckspiel nicht lieben. Vielleicht ist dies eine Deutung: Arrogante „Künstler", versessen auf abgöttische Anerkennung und beleidigt bis aufs „Weggehen", wenn ihnen — wie sie meinen — nicht genug gehuldigt wird. Solche „Künstler" sind nicht neu. Es gab und gibt sie auch hierzulande. In jüngster Zeit sind sie wieder einmal ins Gespräch gekommen. Allerdings nicht durch einen billig-ordinären Impresario und auch nicht eingesperrt in einen Drahtkäfig — nein, heutzutage finden sich kapitalkräftige Impresarios und weit bequemere Medien, sich zur Schau zu stellen. Ein aktuelles Stück also? So gesehen, ja.

 

 

 

Junge Welt, 9. April 1980