Ernst Jandls „Humanisten“ am Berliner Ensemble, Regie Philip Tiedemann

 

 

sein viel schmutzen

 

Wer sich ein ergötzendes Bühnenerlebnis bereiten möchte, begebe sich in die Probebühne des Berliner Ensembles. Dort hat der junge Philip Tiedemann mit außergewöhnlicher Akribie das Konversationsstück in einem Akt „Die Humanisten“ von Ernst Jandl in Szene gesetzt. Ich habe seit langem keine so präzis gearbeitete, so brillant auf die Spitze sozialkritischer Komik gebrachte Aufführung gesehen.

 

Gedacht war der Abend als Hommage für den am 9.Juni dieses Jahres verstorbenen österreichischen Schriftsteller Ernst Jandl (1925-2000). Daraus geworden ist mehr als eine rezitierende Würdigung des Werkes. Lebendig wird des Autors humanistische Haltung. 1976 machte er mit seinem originellen Opuskulum bissig-sarkastisch auf wenig sympathische Eigenheiten deutschsprachiger Intellektueller aufmerksam. Die Inszenierung weckt mit ihrer rückhaltlosen Hingabe an den Autor Erinnerungen an beste Zeiten des Berliner Ensembles. Unter Bertolt Brecht, Erich Engel und auch Benno Besson wurde so genau, konkret und mit Genuß am Wort des Dichters gearbeitet, waren die Impulse so realistisch, ergänzten sich Geste und Text so hervorragend. Imponierend damals wie heute die aus geistiger Souveränität im Umgang mit dem Material kommende Spielfreude.

 

Zunächst quoll da aus vier Löchern in der Tiefe wallend der derzeit offenbar obligatorische weiße Bühnenrauch (Ausstattung: Franz Lehr), und ich fürchtete schon um den Abend. Dann hob sich der Vorhang, und in Kellerfenstern erschienen fröhlich-herausfordernd Gesichter von vier Leuten, die hervorragend rhythmisch im Takt Jandls „Talk“ schmetterten, ein hinreißend tönendes großes „Blaablaablaablaa bäbb“. Vor allem Veit Schuberts Figur zog mich in den Bann. Köstlich, wie da ein älterer Herr von wüst zotteligem Outfit mit Schalk sprühenden Äuglein ins Publikum blickte und mit begeisternder Intensität und Willenskraft die wenigen Silben immer wieder neu modulierte.

 

Die vier Gestalten erhoben sich, und jede versuchte die anderen im furiosen Silbenschmettern zu überbieten.. Ein faszinierendes, melodisch hervorragendes Ton-Quartett. Neben dem Wirrhaar ein junger Rotschopf, Markus Meyer, nicht ganz so energisch, eleganter, weicher, vermittelter, aber nicht weniger unmittelbar. Und eine junge, einfältig freundliche Maid, Krista Birkner, sowie ein furchterregender, bulliger Bengel mit blonder Pimpf-Tolle und unendlich breitem Mundwerk, Michael Rothmann (Kostüm und Maske: Barbara Naujok).

 

Nach kurzer Verschnaufpause verkündet Schubert frohgemut: „ahnenfangen! ahnenfangen!“ Und der Zuschauer hat für einen Moment Mühe, sich in die einfache, zugleich höchst komprimierte Kunstsprache Jandls hineinzuhören. So verschroben volkstümelnd sie scheint, sie ist von frappierender Plastizität und einzigartiger Sinnfälligkeit. Exakt und sinnerfüllt gesprochen wird sie geradezu zum Ohrenschmaus. Und hier sind vier Akteure am Werk, die eine ursprüngliche Lust am konzentrierten, prononcierten Sprechen vermitteln.

 

Veit Schubert gibt den „universitäten professor“. Grübelnd kniet er nun erst einmal nieder und meditiert versonnen „ich hier sein wo sein? ich ich sein wer sein?“ Hinreißend, wie der Schauspieler diese wenigen Worte zum Ereignis macht, den Zuschauer mit hineinzieht in fröhlich-existentielle Nachdenklichkeit. Schubert ist einfach grandios. Als ein wunderliches, etwas zerzaustes aber lebensfroh-vitales, höchst sensilbes Männlein steht er da, ein zerstreut-fahriger Professor von ausdrucksvoller Mimik, perfekter Meister des Wortes, glühender Verehrer und Verteidiger der „deutschen sprach“  -  ein herrlicher Komödiant, ein zauberhafter Harlekin. Die leiseste Regung spiegelt sich auf seinem sensiblen Gesicht, es legt sich in Falten bei leichtester Bestürzung, es strahlt in inniger Genugtuung.

 

Alsbald streiten sich zwei deutschsprachige „nobel preisen“, der deutsche „witzelnschaftler“ und „rhetoriken“ (Schubert) und der österreichische „kunstler“ (Meyer), über „den deutschen sprach“, über „in kunst viel nicht gut sein“ und „platz für schwankelnschaft“. Überhaupt „sein viel viel schmutzen“! Gleichermaßen inbrünstig debattieren die beiden über Wichtigkeiten wie über Nichtigkeiten. Noch einmal kommen sie sich näher, als sie an „puff denken“, doch übers „rot sehen“ geraten sie immer heftiger gegeneinander. Währenddessen formieren sich der bullige Kerl und die blonde Maid bedrohlich militant. Verbittert schimpft er auf „ein scheißen tag“, langsam fassen beide Tritt. Zu spät versöhnen sich die Intellektuellen. Eine MP-Salve fegt sie von ihren Podesten. Marschschritt, Gleichschritt. Trümmer auf dem sich senkenden Vorhang.

 

Bewegendes Theater, das einfache, das schwer zu machen ist. Stürmischer, langanhaltender Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 9.Oktober 2000