„Die Holländerbraut“ von Erwin Strittmatter

Uraufführung des Deutschen Theaters im Berliner Ensemble

Regie: Benno Besson

 

 

Die Holländerbraut

 

 

   Diese Premiere des Deutschen Theaters im Berliner Ensemble haben wir nachdenklich verlassen.  In  die Freude über das neue Werk Strittmatters mischten sich Überlegungen ästhetischer Art. Das Bild, das uns der Dichter entwirft, ist wahr. Gutsarbeiter und Tagelöhner nehmen 1945 ihre Geschicke in die eigenen Hände. Sie errichten Neubauernhöfe aus Lehm und führen den Klassenkampf gegen Großbauern und Unternehmer. Am Tage arbeiten sie, in der Nacht studieren   sie. Der Kampf ist schwer, aber siegreich. Denn es gibt die Partei, die Partei der Arbeiterklasse. Und die Genossen, eben aus dem KZ entlassen, stehen ihren  Mann. Strittmatter gibt wie in „Katzgraben" einen Querschnitt durch die sozialen Schichten des Dorfes. Er stellt uns die unterschiedlichsten Charaktere vor, plastisch und rund wie in seinen Romanen. Da treibt die Idiotin Schnurfarski ihr Unwesen, da kommt die alte Feimer, das Kräuterweib, mit der Zeit nicht mehr zu­recht, da künden Kinder den neuen Tag an. Leben in Hülle und Fülle. Dennoch kann das Stück nicht restlos überzeugen.

Wir wissen, das dramatische Gebiet, das wir betreten, ist Neuland, ist nicht mit Ver­kehrszeichen versehen. Unser Kompaß, die marxistische Ästhetik, gibt die Richtung an. Aber Sackgassen sind nicht markiert, Haupt­straßen nicht gekennzeichnet. Einzelne können irren. Prüfen wir jeden Schritt. Nur gemein­sam kommen wir voran. Beträchtlichen Boden haben wir gewonnen mit Sakowskis „Die Entscheidung der Lene Mattke". Weitergekommen sind wir durch die Autoren Hauser, Zinner, Baierl, Hacks, Müller, Richter, Heller/Gruchmann-Reuter, Pfeiffer. Nun Erwin Strittmat­ter. Sein Stück ist ein mutiger Versuch. Er stößt uns mitten hinein in die Diskussion um unsere neue sozialistische Dramatik.

Die Problematik des Stückes ist zwar die Problematik des in erster Linie epischen Dich­ters Strittmatter. Es ist aber gleichzeitig die aller unserer suchenden Dramatiker. Sie können den neuen Inhalt nicht bewältigen ohne das tiefe Verständnis für die Funktion der dramatischen Form. Und die Form muß unzulänglich sein, wenn der Inhalt nicht bis ins Letzte parteilich durchdacht ist.

Strittmatter wollte zeigen, daß private Ent­scheidungen eines Menschen stets zugleich gesellschaftliche Entscheidungen sind. Dul­dung des Klassengegners aus privater Rück­sicht, zum Beispiel aus Liebe, ermutigt ihn; Ent­larvung trotz persönlicher Bindungen wirft ihn zurück. Der Autor entwickelte seine Gedanken an dem Schicksal der Tagelöhnerin Hanna Tainz. Das Mädel liebt 1944 den Großgrund­besitzerssohn und Leutnant der faschistischen Wehrmacht Heinrich Erdmann. Sie bekommt ein Kind. Er gibt an, sie mit einem holländi­schen Zwangsarbeiter gesehen zu haben. Sie wird ins KZ verschleppt. Dort prügelt man ihr das Kind ab. Nach 1945 wird sie Bürger­meisterin im Heimatdorf. Man nennt sie dort noch immer „Holländerbraut". Heinrich Erdmann nähert sich ihr wieder. Er gibt vor, sich zu bessern. Sie verlangt Beweise. Damit er es beweisen kann, erreicht sie mit Hilfe der Genossen, daß er Neubauer wird. Um sie sich endlich gefügig zu machen, nimmt er Hanna mit Gewalt. Wieder bekommt sie ein Kind. Jetzt will sie es nicht, aber er. Sie gerät in Abhängigkeit von ihm, sucht nicht die Hilfe der Partei. Sie wird ausgeschlossen. Er wird dreist, sabotiert die Getreideablieferung. Es kommt zum Tumult, wohl gesteuert von ihm und einem Bauunternehmer. Endlich entlarvt Hanna den Erdmann.

Das ist auf den ersten Blick ein bewegtes Geschehen. Und doch bleiben wir seltsam unbewegt. Warum? Hanna ist eine Vertreterin der bis 1945 ausgebeuteten Arbeiterklasse. Das sollte sie uns liebenswert machen. Aber sie verficht nur ihre Privatangelegenheit. Dem Vater gegenüber setzt sie ihre eigen­willige Liebe durch. Dann ist sie Objekt des Geschehens. Nach 1945 lernt sie, daß, damit der Mensch gut sei, die Macht der Begüterten gebrochen werden muß. Dennoch bringt sie den Erdmann wieder ins Spiel. Aus Liebe? Das bleibt offen. Sie wird wieder zum Objekt des Geschehens, verurteilt sich selbst zur Passivität. Aus Liebe? Offenbar ja. Denn sie läßt Erdmann gewähren. Als sie endlich parteilich handelt, endet das Stück. Strittmatter bittet am Schluß um Liebe und Verständnis für eine Frau, von deren Art es viele ge­geben haben mag. Aber unser künstlerisches Interesse hat sie sich nicht erkämpft. Denken wir an Lene Mattke!

Der Hauptkonflikt Strittmatters ist das pri­vate Anliegen der Hanna Tainz: ihre betro­gene Liebe zu dem Faschisten Erdmann. Da der Autor der Hanna in diesem Hauptkonflikt im wesentlichen Inaktivität auferlegt, kann er ihn künstlerisch nicht zu einem grund­sätzlichen Konflikt der Gesellschaft formen. Hannas Aktivität in Nebenkonflikten reicht da nicht aus. Und das ist auch der Grund, weshalb der Autor keine dramatische Aktion in Gang bringt. Er ist gezwungen, seine Fabel episch auszubreiten. Er teilt sie in viele Szenen auf, die nicht dramatisch verzahnte Stationen spiegeln, sondern sprunghaft Ent­wicklungsetappen zeigen. Natürlich gibt es Szenen von Kraft und Dichte. Strittmatters Menschen sind lebenskräftig, diesseitig, pla­stisch. Seine Sprache ist voll herber Poesie, voll prächtiger Bilder. Aber er ist verliebt ins Detail, ins Milieu, dort hält er sich auf. Seine Dialoge sind knapp und prall. Doch oft schmücken sie aus, vertiefen sie, anstatt weiterzuführen. Und die Songs haben nicht immer eine Funktion.

Nun: Strittmatters poetisches Profil ist un­bestritten. Jede seiner Repliken kann sich aus­weisen. Ihre Herkunft ist eindeutig. Er knüpft bei Brecht an, ohne ihm zu verfallen. Aber er hätte die Voraussetzungen, auch bei Wolf, bei Gorki Fäden aufzunehmen. Er könnte — selbstverständlich unter anderen historischen Bedingungen — der deutsche Wischnewski werden. Doch er hat sich den Zugang zur dramatischen Synthese verbaut. Sein Stück ist zwar im Detail eindrucksvoll, aber es ist insgesamt äußerlich, willkürlich, die zwangsläufige Folge dieses Inhalts.

Benno Besson stand als Regisseur mithin vor einer schweren, aber zugleich außer­ordentlich reizvollen Aufgabe. Er nahm als Künstler Partei für das Stück. Er strich be­hutsam, holte Strittmatters Fabel nach vorn, tüftelte sie aus den Nebensächlichkeiten her­aus. Dabei kam ihm Bühnenbildner Karl von Appen zu Hilfe. Er baute ihm wundervolle Reliefs, Szene für Szene, nach hinten abge­schlossen, durch den Sinngehalt der Hand­lung kommentierende Prospekte. Dieses Bühnenbild zwang zur Konzentration, orien­tierte auf das Wesentliche. So bannt uns zwar nicht die positive Heldin Hanna Tainz, aber die Person Hanna, das kleine, bescheidene, unentschlossene, unglückliche, tapfere Prole­tariermädel, das schließlich doch noch einen klaren Kopf bekommt. Allerdings: Da Besson vorwiegend den Faden der Handlung bloßzu­legen sucht, trifft er nicht ganz die Eigenart dieses Stückes. Strittmatters poesievolle Sprache ist bei Besson auf ihren nüchternen Sachgehalt und die reiche Erlebnis- und Ge­fühlswelt seiner Menschen auf die deutbare Gestik reduziert. Das ist freilich nicht der ganze Strittmatter.

Es ist überraschend, wie gut sich die Dar­steller des Deutschen Theaters mit dem direkt von Brecht bezogenen Schauspielstil Bessons zurechtgefunden haben. Käthe Reichel gibt die Hanna Tainz still und verhalten, ohne Hysterie, sicher in der Diktion, manchmal vielleicht etwas zu darlegend. Peter Sturms Gutsschäfer und spätere Parteisekretär Mal­ten strahlt besonnene Wärme und Herzlichkeit aus. Wenn er seine angeborene Güte mit der notwendigen Parteilichkeit in Einklang bringt, entwirft er das überzeugende Bild eines klu­gen, unermüdlichen Parteiarbeiters. Friedo Solters Heinrich Erdmann ist klar umrissen, ein junger Faschist, der nichts gelernt hat, nicht offen brutal, aber hinterhältig und ge­fährlich. In weiteren Rollen Herwart Grosse, Gisela May, Adolf-Peter Hoffmann, Mathilde Danegger, Georg Peter-Pilz, Amy Frank und viele andere.

Das Deutsche Theater hat sich mit der Ur­aufführung dieses Werkes um die sozialisti­sche Gegenwartsdramatik außerordentlich ver­dient gemacht. Erwin Strittmatter wird nach Sichtung der kritischen Urteile und nach zahl­reichen Diskussionen sein dichterisches Arse­nal überprüfen. Er wird uns — das hoffen wir — bald ein Drama schenken, das den Hel­den der sozialistischen Landwirtschaft ein bleibendes Denkmal setzt.

 

 

 

SONNTAG, 16. Oktober 1960