„Hochzeit“ von Elias Canetti am Schauspielhaus Hamburg, Regie Christoph
Marthaler
Sie haben den Kanal noch lange nicht voll
Am durchwachsenen, typischen Kleinbürger für das Theater etwas Neues zu entdecken, selbst wenn der sich zum Totentanz rüstet, ist beinahe unmöglich. Doch Christoph Marthaler, der 1951 in Zürich geborene sensible Experte für skurrile Bloßstellungen, kennt sich aus. Bei Elias Canettis absurdem Drama „Hochzeit", das er am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg inszenierte und mit dem er jetzt an der Berliner Volksbühne gastierte, setzte er, dem Autor widersprechend, einen bemerkenswert neuen Akzent.
Der 1905 in Bulgarien geborene Elias Canetti, Sohn spanisch-jüdischer
Eltern, lebend in Manchester, Zürich und Wien, schrieb dort 1932 seine „Hochzeit",
eine Groteske über den bevorstehenden Untergang der Welt, vorgeführt mit Bewohnern
eines durch ein Erdbeben schließlich zusammenbrechenden Hauses, speziell mit
den Gästen einer Hochzeitsgesellschaft, die am Ende mörderisch übereinander
herfallen. Bei Marthaler rumort es zwar gewaltig im Gemäuer, Qualm quillt
bedrohlich aus einem riesigen Boiler, und der Kronleuchter verliert krachend
einige Glühbirnen, doch das Haus widersteht. Und erst recht seine Bewohner!
Zwar liegen sie - offenbar volltrunken - in den
Ecken herum, raffen sich für ihre geld- oder sexgierigen Dialoge auf und stürzen
alsbald erneut zu Boden, aber so es fromme Regungen zu preisen gilt, vereinigen
sie sich aufrecht zu vollmundigem Chor. Und auf dem Höhepunkt, wenn - wie das
zu jeder zünftigen Hochzeit gehört - gängige Schnulzen wie in einem Potpourri
mit den jeweils bekannten Plattitüden geschmettert werden, tönt es unüberhörbar:
„Wir haben den Kanal, wir haben den Kanal noch lange nicht voll...!"
Diese Herrschaften sind nicht tot zu kriegen, von ihnen ist noch einiges zu
erwarten. Bei Marthaler bringen sie sich nicht um, im Gegenteil, sie tanzen so
ausdauernd wie unverfroren und lachen heuchlerisch fröhlich ins Publikum.
Wer des Regisseurs gespenstische
Menschenschau Phantasmagorie nennt, übersieht, daß seine darstellerisch und musikalisch
minutiös durchgefeilte Arbeit nicht abhebt von der Wirklichkeit, sondern entlarvend
hineinleuchtet in all ihre Winkel. Sichtbar wird ein Widerspruch: eine
dekadente, aber noch immer lebensstrotzende Gesellschaft. Zwar scheinen
manchmal Marionetten an den Fäden ihres Schicksals zu agieren, wie etwa Anita (Bettina
Engelhardt), das bessere Mädchen, das Ideal der Reinheit, doch das Gezierte gibt
sich, löst sich auf in dem Maße, in
dem sie sich integriert. Feine Leute allemal.
Der Herr Oberbaurat Segenreich (Josef Ostendorf), stolzer
Brautvater, kotzt mal nebenbei, zeigt akrobatische Fertigkeit und schwört auf
sein Bauwerk, das Haus. Mit einem Freund, dem Direktor Schön (Ueli Jäggi),
verbindet ihn eine Haßliebe. Daß seine kapriziöse Frau Johanna (Ilse Ritter)
mit eben diesem Herrn intim ist, entgeht ihm. Auch, daß sie Michel (Jürg
Kienberger), den klavierspielenden Bräutigam ihrer Tochter Christa (Annelore
Sarbach), mal eben in einem Cabinett sexuell aufklärt, bekommt er nicht mit.
Aber Mariechen (Olivia Grigolli), die Schwester der Braut, bemerkt das wohl.
Prompt erpreßt sie Michel.
Zur illustren Runde gehört auch Dr. Bock (Adolph Spalinger), der
80jährige Hausarzt, der noch immer wacker seinen Mann steht, nicht nur bei Christa,
die er schon vernaschte, als sie als Halbwüchsige bei ihm Patientin war. Monika
Gall (Barbara Nüsse), die Frau des impotenten Apothekers (Jean-Pierre Cornu), steht auf ihn. Wie andere Frauen auch. Toni, die Enkelin
der Hausbesitzerin (Eva Brumby), bei Özlem Soydan ein kecker Fratz von herrlich
egoistischer Bosheit, spekuliert nicht nur auf das Haus der Großmutter, sie
umgarnt mit ihrem unschuldigen Liebreiz auch noch den Doc.
In den Kabinetten links und rechts
des monströsen Festsaales (Bühne Anna Viebrock) kann, wie bereits mitgeteilt, schnell
einmal der Liebe gefrönt werden. Wenn sich die Damen und Herren jeweils danach
am Waschbecken wenigstens die Hände ein bißchen säubern, gurgelt und rülpst
der Abfluß, so daß alle Gäste aufmerken und andächtig zuhören. Beredte Pausen
dies.
Doch die Ausführlichkeit im Detail, ein
Markenzeichen Marthalers, ist nicht durchweg ein Vorzug. Gelegentlich verselbständigt
sie sich. Auch leistet sich der Regisseur verspielt zu viele Wiederholungen von
einzelnen Aktionen oder Repliken. Sein Verflechten des fünfbildrigen Vorspiels
mit dem eigentlich Stück hätte mehr Konzentration durchaus vertragen. Das
trefflich besetzte Ensemble agierte präzis und spielfreudig. Viel Beifall.
Neues
Deutschland, 1. / 2.Juli 1995