„Hermes in der Stadt“ von Lothar
Trolle im Deutschen Theater Berlin, Regie Frank Castorf
Der Mensch ist nicht besser als die Götter
Zu berichten ist von einer Uraufführung im Deutschen Theater in Berlin. Frank Castorf hat sich dort für einen episch-meditierenden Text des 1944 geborenen Lothar Trolle in multimedialer Aufbereitung phantasievolle szenische Illustrationen einfallen lassen, und die von ihm sehr konkret geführten Schauspieler haben dem Abend unter dem Titel „Hermes in der Stadt" in stadtgewaltigen Mauern (Bühnenbild Peter Schubert) fast auf die Beine geholfen.
Zunächst: Die Seele dieser theatralischen
Veranstaltung war keine Fabel, wie das Brecht einst forderte, sich auf
Aristoteles berufend. Also
seelenloses Theater? Im Grunde genommen ja. Es war
bestenfalls eine geschickt offerierte Agit-Veranstaltung. Und zwar arrangiert
um die Erkenntnis: Schon unter den auf uns gekommenen Göttern, siehe Hermes,
wandelten trügerische und diebische Gesellen. Und der Mensch von heutzutage ist
keinen Deut besser.
Erinnert werden in vier poetisierend
zusammengebastelten Bildern gewesene Kriminalfälle. Diebstahl. Mord.
Vergewaltigung. Wie das passiert im Alltag. Die Damen und Herren - in der
Reihenfolge ihrer Auftritte - Margit Bendokat, Benjamin Kradolfer, Gudrun
Ritter, Bärbel Bolle, Franziska Hayner, Claudia Geisler, Dieter Mann und Uwe
Dag Berlin berichten detailliert, was und wie es jeweils geschehen ist. Und sie
fügen agierende Gestalten hinzu als Auslegung, Kommentar, Ergänzung, Hinweis. Sie
treffen die Aussagen mal ironisch, mal aggressiv, mal laut, mal leise.
Figuranten-Theater. Schauspieler als rapportierende Sprachröhren. Castorf
wuchtet das rundum Triviale manchmal in ästhetische Dimensionen, garniert mit Gesang (Juan Carlos Carvajal), manchmal fallen ihm aber auch nur seine
gängigen Mittel ein: Wasser verschütten, Dreck werfen und dergleichen.
Exzellent, wie Dieter Mann einen süperben
Experten für Metrik vorführt, der zugleich ein stinknormaler Mörder ist.
Kleists Marthe Rull (Gudrun Ritter) mit ihrem zerbrochenen Krug geistert -
wegen der Verse! - als komischer Störfaktor dazwischen. Besagter noble Herr denkt
selbst beim Morden ans Verseschmieden. So weit eben haben es die Menschen
gebracht. Hochkultiviert töten sie pervers. Und Castorf tut gut, wenn er in
diesem Zusammenhang als Kontrapunkt einen Bildschirm platziert, auf dem just
die Nachrichten-Show läuft und zu sehen ist, wie sich auf der Erde, etwa in
Jugoslawien oder in Israel, die Menschen umzubringen verstehen. Hier hat der
Abend Profil, auch weil da immerhin so etwas wie eine Geschichte abläuft.
Mit dem letzten Bild wird man
belehrt, Kinder nicht allein in der Wohnung zu lassen, denn sonst kommen sie
auf dumme Gedanken. Auch könnte ein Telefon-Mörder sie anstiften, eine
Überdosis Tabletten zu schlucken. Trolle macht elterliche Erziehung für das verantwortlich,
was die lieben Kleinen, sind sie erst einmal erwachsen, im Leben anzustellen
pflegen. Heilige, simplifizierende Autoren-Einfalt. Dafür das Theater bemüht?
Diese Uraufführung markiert den Grenzfall. So
chaotisch und absurd es auch zugehen mag auf dieser Welt: Zum Stückeschreiben
gehört das Erfinden einer Fabel und zum Theaterabend deren Umsetzung und
Auslegung. Alles andere bleibt letztlich fragwürdig. Selbst wenn es im
Augenblick Beifall erzielt.
Neues
Deutschland, 19. Februar 1992