„Heinrich VI.“ von Shakespeare am Deutschen Theater Berlin, Regie Katja Paryla

 

 

 

 

Ein Mensch  -  zum König verurteilt

 

Wabernder Londoner Nebel. Düsternis. Mit Glockengeläut und Dudelsack-Geschnarr wird König Heinrich V. von England zu Grabe getragen. Der Sohn, der scheue kleine Heinrich (Simone von Zglinicki), weiß gekleidet, mit roten Strümpfen und hölzernem Spielzeugschwert, künftiger König Heinrich VI., wird im Trauerzug mitgeschleppt. Ungehört fleht er um Lieb' und Freundschaft. Auf der Leiche Heinrich V. rangeln die Peers um Einfluß und Macht.

In kühnem Zugriff brachte Katja Paryla am Deutschen Theater in Berlin Shakespeares „Heinrich VI." heraus. Mit Hilfe ihres Dramaturgen Henrik Bien komprimierte sie drei Dramen zu einer Spielfassung für einen normalen Theaterabend. Entstanden ist ein schlüssiges theatrales Symbol. In einem neutralen gelben Kasten mit Gängen, Winkeln und Pforten für Haß und Kabale, für Mord und Totschlag (Bühnenbild Arno Breuers) wird eine endlose Kette von Verbrechen derer vorgeführt, die zwischen Volk und Regent die Macht verwalten.

Ist der König, wie dieser Heinrich VI., ein milder, auf Ausgleich, auf Frieden und Versöhnung bedachter Herrscher, mischt er nicht intrigant und mörderisch mit, so wälzt sich machtlüsterner Anspruch erbarmungslos über ihn hin. Seine Ohnmacht ist die Allmacht der besitz- und einflußgierigen, national überheblichen staatstragenden Schichten. Bedrückend die Erkenntnis: Offenbar nicht einmal so sehr soziale Ursachen bedingen die Untaten, vielmehr über Jahrhunderte nicht veränderbare menschliche Rach- und Herrschsucht.

Die englischen Rosenkriege zwischen den Häusern Lancester und York liefern Regisseurin Katja Paryla ein reiches Spielmaterial. Sie meidet die psychologische Geste, führt ihre Schauspieler stilbewußt zu expressivem Ausdruck, scharfer Diktion und mimischer Verve bis zur Grimasse. Die Mordszenen sind pantomimisch verzögert. Einzelne Aktionen werden in die Groteske getrieben. Etwa wenn die höfische Kamarilla sich über die Erbfolge echauffiert. Eine Szene von gespenstischer Dimension. Alle Vorgänge werden präzis behauptet, zugleich mit ironischer Distanz der Lächerlichkeit ausgeliefert.

Ausgenommen der inzwischen zum Mann gereifte Heinrich VI. Für den entwickelt sich fast Verständnis, fast Mitleid. Inmitten der höllischen Anfeindungen scheint er der einzige menschlich empfindende Mensch. Udo Kroschwald gibt ihn glatzköpfig, weichlich, dicklich, redlichen Gemüts, wie eingesperrt in seine königliche Kluft. Als Kind zum König verurteilt, für die Pflichten und Lasten der Macht weder geschaffen noch geübt, ist er dem Ränkespiel hilflos ausgeliefert, vor allem dem seiner Frau. Er stöhnt über das Hauen und Stechen um ihn her, meint, dies sei nicht sein Land. Zwei bajuwarische Förster verweigern sich ihm als Untertanen. Bevor er umgebracht wird, träumt er wie ein großer, naiver Junge von einem vermeintlich süßen, lieblichen Leben als schlichter Hirte. Er hat sich an der Rampe niedergesetzt, teilt seine innige Sehnsucht treuherzig mit.

Eva Weißenborn gibt die Königin Margareta als eine Teufelin der Heuchelei, scheinbar sanft und gütig, in Wahrheit hinterhältig böse. Aalglatt spinnt sie mit Graf Suffolk, ihrem Geliebten (Uwe Dag Berlin), intrigante Fäden, kalt und berechnend geht sie über Leichen. Die prominentesten: Herzogin Leonore (Johanna Schall) und Herzog von Gloster (Karl Kranzkowski).

Ein Ensemble von Spitzenkräften. Horst Lebinsky (als alter Mortimer), Mario Gericke (Herzog von York), Frank Lienert (Graf Warwick), Michael Walke (Graf Salisbury), Sven-Eric Just (Herzog von Somerset), Jürgen Huth (Eduard), Gabriele Heinz (Kardinal Winchester). Und Kay Schulze, der mit Bravour den triumphierenden Richard spielt, den vorläufigen Sieger des Mordens.

 

 

 

Neues Deutschland, 7. Oktober 1991