„Die Heimarbeiterin“ von Lothar
Trolle am Berliner Ensemble, Regie Wera Herzberg
Trauriger Fall im Kiez
Erfrischend Lothar Trolles Offenheit. »Ich will«, sagte der Autor 1996 in einem Interview, »ein ganz großes erfolgreiches Stück schreiben, mit dem ich Millionen verdiene. Es gelingt halt nicht, obwohl ich mir Mühe gebe.« Um ebenfalls offen zu sein: Auch diesmal ist es nicht gelungen. Selbst Lebensgefährtin Wera Herzberg., die Regie führte bei der Uraufführung der »Heimarbeiterin« am Berliner Ensemble, konnte die Schwächen der Vorlage nicht überspielen.
Reden wir von Stärken. Der 1944 in Brücken im
Harz geborene, in Berlin-Pankow lebende Trolle nimmt Nachrichten über Leute
hier und heute auf und ertüftelt um sie herum Genrebilder, liebevolle
Miniaturen. Die meisten: durchaus meisterlich. Andere: umstritten. Zumindest zu
DDR-Zeiten, als Theater noch wichtig schien.
Da gab es 1985 bei den Bühnen der Stadt Gera
in der Regie von Wolf Bunge den Einakter »Papa Mama« und «34 Sätze über eine Frau«;
1987 an der Volksbühne Szenen unter dem Titel »Weltuntergang Berlin« in der
Regie von Jürgen Verdofsky. Auch mit »Hermes in der Stadt« 1992 im Deutschen
Theater (Regie Frank Castorf) und »Manege frei für eine ältere Dame oder
Wstawate, Lizzy, wstawate« 1993 in den Kammerspielen des DT (Regie Tatjana
Rese) sowie mit »Die Baugrube« 1996 im Berliner Ensemble (Regie Armin Petras)
blieb Trolle im Grunde seiner Genrebild-Dramatik treu. Die
menschenfreundlichen, meist etwas schrullig verspielten, auch märchenhaften
Geschichten haben einen geistigen Drehzapfen, der mir gut mit Sätzen
umschrieben scheint, die der Autor so formulierte: »Man lebt immer im eigenen
Ich wie in einem Gefängnis. Etwas überspitzt gesagt: Man sollte aber dafür sorgen,
daß man wenigstens Wärter ist, nicht Häftling.«
In eben diesem Widerspruch leben Trolles Figuren. Sie versuchen, Wärter
zu sein. Was ihnen nicht immer gelingt. Liegt es daran, daß sie vom Autor zu
wenig Chancen erhalten, sich zu entfalten, sich ein abendfüllendes Drama zu
erkämpfen? Die Heimarbeiterin jedenfalls, die namenlose neunzehnjährige
»Sie«, eine einsame Kindsmörderin, darf ihre Tat minutiös vorführen und
anschließend bitter klagen. Zu wenig fürs Theater. Trolle, der das
wahrscheinlich spürte, nahm den Mord, der sich 1993 in Pankow zutrug, als einen
traurigen Fall im Kiez und umrahmte ihn mit Reminiszenzen zweier liebenswürdig
geschwätziger alter Schachteln (Christine Gloger und Annemone Haase) und der
selbstzerfleischenden Suada eines ansonsten Zeitung lesenden Herrn (Axel
Werner).
So beginnt der Abend nicht mit dem
Fall, sondern ziemlich possierlich mit einem Plausch der offenbar auf ihrem Balkon
sitzenden und mit Ferngläsern bewaffneten Damen, die neugierig ins Publikum
blicken. Die eine, die Gloger, benutzt das Auditorium und ihre Freundin, um einen
Vortrag über das Auge zu halten. Wer vermutet, die langwierige Darlegung sei
die Exposition fürs Behütetsein, das man einem Augapfel wie einem Neugeborenen
angedeihen lassen sollte, sieht sich enttäuscht. Kein Zusammenhang. Abrupt
gehen die Damen dazu über, die Regieanweisungen zu referieren. So erfährt man,
wie sich der Autor intime Geschehnisse wünschte. Daß da nämlich »Sie«, die
Heimarbeiterin, »auf dem Linoleum ihres Wohnzimmers mit einem Blutsturz gebärt,
danach eine Weile in dem Blut liegen bleibt...«
Das Sudeln mit rotem Wasser erspart Regisseurin
Herzberg dem nahe sitzenden Publikum. Dennoch läßt sie Catherine Stoyan Geburt,
Verscharren und Ausgraben des Babys penibel vorführen. Zu erkennen ist die
völlige geistige Blockierung einer in Not Gebärenden, aber kein Schmerz. Der
Fall, seit Goethes Gretchen exemplarisch behandelt, bleibt nüchterne, teils
umständlich vorgeführte, kaum berührende Demonstration.
Neues
Deutschland, 16. Juni 1997