„Die Heilige Familie im Personalbüro“ von Gerhard Zwerenz am Staatstheater Saarbrücken, Regie Stefan Schön

 

 

 

Der Altar des Vaterlandes – das Personalbüro

 

Aus Saarbrücken ist von einem außergewöhnlichen Bühnen-Ereignis zu berichten. Am dortigen Staatstheater wurde das Krippenspiel „Die Heilige Familie im Personalbüro" von Gerhard Zwerenz uraufgeführt. Die Inszenierung von Stefan Schön im nostalgischen Saal der Alten Feuerwache (von Bühnenbildner Wendelin Heisig gleichsam als Sakralraum genutzt) fand die ungeteilte Zustimmung des Publikums.

Da gebraucht ein zeitgenössischer Autor, 1925 in Sachsen geboren, 1957 aus der DDR in den Westen geflohen, aber linker Überzeugung treu geblieben, im Jahre drei der Wiedervereinigung aus dem Mittelalter überkommene theatralische Mittel, um seine hochaktuelle Kunde über deutsche Befindlichkeit unter die Leut' zu bringen: Botschaften, sarkastisch, knallig, ein Feuerwerk polemischer Attacken.

Wenn es einst um die theatrale Verbildlichung der Fakten der Evangelien ging, um die Vermittlung des gradualistischen Weltbildes von der Einordnung des Menschen in einen von Gott bestimmten Stufenbau, so geht es Zwerenz mit seinen Symboldarstellungen um die Zertrümmerung jeglichen von Ideologie geprägten Weltbildes. Obzwar er das Statuarische und Deklarative des uralten Spiels verwendet, geht er aufklärend realistisch mit dogmatisierter religiöser oder säkularer Anschauung um. Dabei fügt er seine Personage, profane Gestalten wie den Personalchef, allegorische Figuren wie den Gerechten, historische Personen wie Hitler, Stalin, sowie biblische Helden wie Jesus und Maria, zu einem scheinbar simplen, deftigen Jahrmarkttheater, von realiter bissigem intellektuellem Zuschnitt.

Welch dreiste und doch treffliche Verbildlichung aber auch, das gegenwärtige Dasein im vereinten Deutschland, den Gegensatz zwischen den Bankrotteuren eines kaputten Staates und den unumschränkten Herrschern eines korrupten Staates als den Widerspruch zwischen Mensch (sprich Heilige Familie) und Obrigkeit (sprich Personalchef) zu personifizieren. Und den Konflikt auszulösen mit der Forderung des ungläubigen Enkels Josephs, eines respektlos aufmüpfigen jungen Mannes, über die Mär Lyoner Kanoniker von der Unbefleckten Empfängnis Marias endlich einmal wahr informiert zu werden. Wozu weder Maria noch Joseph bereit sind. Was den Enkel in die Welt treibt und ins Personalbüro, an den Altar des Vaterlandes, wo außer ihm auch der inzwischen arbeitslose teuflische Liquidator, eine gewesene Köchin aus der Geheimdienstküche, der Gerechte, ein von Freund und Feind getretener Opportunist und schließlich auch Jesus ihr Glück suchen.

Zwerenz' Stück-Collage, die in ihrer politischen Stoßkraft und artifiziellen Unbekümmertheit an Majakowskis „Schwitzbad" erinnert, zeichnet mit dem Ins-Bild-bringen des neuzeitlichen deutschen Grundverhaltens, des Antichambrierens im Personalbüro, zugleich das Bild von der verlogenen Arroganz der Macht gegenüber sozial Schwachen. Sinnfällig wird das vor allem in der Art, wie der Personalchef Jesus und die Köchin behandelt. Jesus, eingeführt als Rebell und Idealist, wird zunächst die Stelle des Friedhofsgärtners angeboten. Doch nachdem der Vorgesetzte des Personalchefs den Fall im Ministerium besprochen hat, wird Jesus als Sicherheitsrisiko angesehen und davon geschickt. Und obwohl er mystisch gewaltig am Kreuze aufersteht, wird er vorsorglich in Ketten gelegt. Die Köchin bei der ehemaligen Staatssicherheit, die der Personalchef sinnigerweise sogar einstellt, wird nach drei Wochen Putzfrauenarbeit im Städtischen Krankenhaus als Sicherheitsrisiko entlassen. Und der Personalchef ist machtlos.

Machtgefüge verschiedenster gesellschaftlicher Sorte enttarnt Zwerenz. Er ist dabei so phantasievoll wie drastisch. Und er steigert die offenbarende Effizienz seiner Bilder. Der Papst tritt auf und züchtigt Jesus voller Haß, weil der zur Unzeit als Störenfried heutiger religiöser Machtinteressen wiedergekehrt ist. Maria entpuppt sich als die Sünderin Maria Magdalena, die nach der Überlieferung Jesus die Füße salbte, und zieht, wegen einer guten Anstellung, mit dem Personalchef eine Nummer ab. Ihr Sohn, eben der Enkel der Heiligen Familie, avanciert zum Dichter, der die sagenhaften deutschen Geschichten aufschreibt und als heiliger Heiner seine Bereitschaft erklärt, für gutes Honorar für oder gegen jedwede Revolution zu fabulieren.

Schließlich ein Dreh. Der Darsteller des Dichters verläßt unter Protest die Szene. Die Schauspieler räsonieren wie er über das Stück. Hitler und Stalin, Randfiguren, mischen sich ein, debattieren mit Jesus. Und alle fallen über den Dichter her, den zurückkehrenden Schauspieler, weil sie plötzlich in diesem hartnäckig Ungläubigen den Schuldigen für alles Übel sehen. Das ist eine verblüffende Wende, die - auf langer Rückfahrt nach Berlin noch einmal überdacht - meines Erachtens die ursprüngliche, sehr komplexe Konfliktkonstellation zugunsten eines Bonmots aufgibt. Wahrscheinlich deshalb fügte der Regisseur und Einrichter Stefan Schön einen vom Jesus-Darsteller gesprochenen Epilog an, der auf die religiös-ethischen Aspekte zurückführt.

Mithin: Das Stück, ein faszinierender Wurf, aber unausgegoren, ist ein schwerer Brocken für jedes Ensemble. Die Saarbrücker, offensichtlich untrainiert im Umgang mit solcherart metaphorischem Text, spielten engagiert, doch zu hastig, den Gedankenreichtum leider nicht auskostend. Und Stefan Schön, sehr einfallsreich zwar, fand die Kraft nicht, das komplizierte Geschehen dynamisch zu gliedern und einen sich steigernden Rhythmus zu setzen. Überzeugend immerhin Thorsten Menkenhagen als Jesus, Andreas Döring als Enkel, Jean-Francois Le Moign als Joseph. Felix Römer als Personalchef, zunächst arg chargierend, profilierte sich im Spiel.

Das provokante Stück gehört aufs deutsche Theater. Indessen, die einzige Truppe, die ihm gewachsen ist, scheint mir zur Zeit die um Frank Castorf an der Berliner Volksbühne.

 

 

Neues Deutschland, 26. Januar 1993