„Der Hausbesuch“ von Rudolf Borchardt an der Schaubühne Berlin, Regie Edith Clever

 

 

 

Rosie plaudert über ihre Ehe

 

Ist's eine Verkettung widriger Umstände? Einerseits kommen derzeit von deutschen wie ausländischen Dramatikern kaum wirklich bewegende neue Stücke (wobei ich unterstelle, daß Regisseure, Dramaturgen wie Intendanten aufgeschlossen sind); andererseits wurden den Bühnen die Finanzen beschnitten. Die Folge ist: Die Theater weichen in überkommene Prosa aus und sparen bei Personal und Bühnenbild. Die Vielzahl der Lesungen ist schon gar nicht mehr zu reportieren. Am besten rechnen sich Texte für eine Person, vorgetragen an einem Tisch oder auf einer Couch. Wenn der Rezitator seinen Text ein bißchen szenisch illustriert, wird's sogar platonisch theatral. Solange zahlungsfähige Hörer erscheinen - etwa aus Verehrung des Schauspielers -, pfeift das Theater zwar weithin hörbar auf dem letzten Loch, aber noch ist's wenigstens nicht geschlossen.

Von einem »Grenzfall« ist jetzt aus der Berliner Schaubühne zu berichten. Dort hat die Tragödin Edith Clever Regie geführt und mit Jutta Lampe den »Hausbesuch«, einen Prosatext von Rudolf Borchardt, einstudiert. Der Bühnenbildner, Gisbert Jäkel, kommt mit edler Couch, magischer Säule, schlichtem Vorhang und einem Regenguß aus. Insofern also a priori ein Unternehmen, das sich lohnt. Zumal beide Aktricen in Berlin ein zahlreiches Publikum haben.

Was den der Vergessenheit entrissenen Autor betrifft, schien Skepsis angesagt. Rudolf Borchardt (1877-1945) neigte nicht nur zu großbürgerlichem Standesbewußtsein, er war auch anfällig für deutschen Nationalismus. (Borchardt 1916: »Der Kampf um die Möglichkeit von Annexionen ist nicht an den äußeren Fronten zu entscheiden ... Er wird im Inneren der deutschen Seele ... geführt ...«) Wie sehr der Autor andererseits tradiertem Humanismus verbunden war, erhellt »Der Hausbesuch«, eine Geschichte über Rosie, eine junge, sich von gutbürgerlicher Konvention emanzipierende Frau. Sie wird von ihrer Kusine dazu überredet, endlich offen über die Gründe zu sprechen, die sie veranlaßten, sich nach zwölfjähriger Ehe von dem renommierten Ohrenarzt und Wissenschaftler Büdesheimer zu trennen. Ein Resümee das, wohl besser Lektüre, aber spielbar. Edith Clever - als Kusine dunkel und unscheinbar gekleidet wie die Koken, die Bühnenwarte des japanischen No-Theaters, immer irgendwo dienstbar anwesend, sich aber meist zurückhaltend – exponiert zum Auftakt kurz ihre Neugier und das Problem. Sie macht das mit dezenter Geste sprecherisch süperb. Sofort umgibt das Geschehen ein feinsinniges Gespinst weibischer Ironie. Spannung baut sich auf, Erwartung. Rosie beginnt zu plaudern.

Wie Jutta Lampe nun als geschiedene Büdesheimer über ihre Ehe berichtet, die nach Enttäuschungen langsam in die Brüche ging und nach spontanem Ehebruch mit dem Hausbesucher, einem Jugendfreund, abrupt endete, ist von fast dramatischem Zuschnitt. Die Darstellerin schafft diese Wirkung, weil sie die Rosie feinfühlig differenziert als eine junge Frau spielt, die auf die Ereignisse von damals souverän zurückblickt. Über den pedantischen Mann, den hochspezialisierten Erforscher der Paukenhöhle des menschlichen Ohres, zu dem sie aufblicken wollte, spricht sie mit ironischer Distanz. Keck schadenfroh amüsiert sie sich im nachhinein über dieses oder jenes Mißgeschick, das ihm, der kein Mann „mit Hörnern“ sein wollte, widerfuhr. Überhaupt ist Jutta Lampe von erfrischender Natürlichkeit. Sie sprengt damit in gewisser Weise den etwas zeremoniellen, unnötig weihevollen Rahmen, den Edith Clever für sie absteckte.

Nach der Pause leider, wenn die Regisseurin aus dem halben Spiel eine ganze Lesung am Tisch macht, fällt die Spannung deutlich ab. Plötzlich glaubt man, den Fall eigentlich zur Genüge zu kennen und auf Details der verstiegenen Erörterungen verzichten zu können, in die der eifersüchtige Hausherr seinen Besucher verwickelte. Obendrein vermochte Autor Borchardt den Höhepunkt seiner Geschichte, die leidenschaftliche Verführung des Gastes durch die liebeshungrige Ehefrau, kaum besser als Hedwig Courths-Mahler zu schildern; und die Schauspielerin, bis dahin wundervoll konkret, flüchtet sich in allgemeine Gebärden.

Die Regisseurin rettet den Abend mit einer Pointe. Ihre Kusine - nachdem sie von Rosie genug erfahren hat, der leidigen Ehequerelen offenbar überdrüssig - öffnet tief im Hintergrund ein Tor, tritt nach draußen ins winterliche Berlin, besteigt ein herbeigerufenes Taxi und fährt davon in den Alltag ...

 

 

 

Neues Deutschland, 22. Januar 1997