„Der Hauptmann von Köpenick“ von Carl Zuckmayer am Berliner Ensemble, Regie Christoph Brück

 

 

 

Deftige Berliner Posse um den legendären Schuster Voigt

 

Mit Blick auf das Jubiläum seiner 750jährigen Stadt brachte das Berliner Ensemble Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick" in einer Inszenierung des jungen Christoph Brück zur Premiere. Eine Inszenierung, die als der Versuch philosophischen Volkstheaters herzlichen, lang anhaltenden Beifall des Premierenpublikums fand.

Die „Köpenickiade" des legendären Schusters Wilhelm Voigt aus dem Jahre 1906 rührt noch immer Herzen und Seelen der Berliner. Voigt hatte, wie bekannt, versucht, aus dem Teufelskreis auszubrechen, in den ihn wilhelminischer „Ordnungssinn" gebannt hatte. Sein Bemühen, nach Abbüßung einer ungerechtfertigt harten Haftstrafe im Leben wieder Fuß zu fassen, scheitert: ohne Arbeit keine Aufenthaltserlaubnis, ohne Aufenthaltserlaubnis keine Arbeit. Da versucht er, sich als falscher Hauptmann zu seinem Recht zu verhelfen.

Als Zuckmayer das Stück 1930/31 schrieb, wollte er mehr als einen gängigen Militärschwank, auch mehr als eine bissige Satire. Er focht gegen den neuen militaristischen Geist, den die Faschisten in Deutschland breit zu machen suchten. Die Nazipresse fiel denn auch prompt über ihn her. Thomas Mann hingegen bescheinigte ihm: „Seit Gogols ‚Revisor' die beste Komödie der Weltliteratur".

Auch heute erweist sich das 1931 in der Regie von Heinz Hilpert uraufgeführte Stück als ein originelles, handfestes Bühnenwerk. Auf einem Bilderbogen mit 21 Schauplätzen gibt der Autor dem Gaunerstreich des Wilhelm Voigt eine gründliche soziale Motivation. In einer zweiten Handlungsebene schildert er den Weg einer Hauptmannsuniform aus der Werkstatt des kaiserlichen Schneiders Wormser in Potsdam bis zum Trödlerladen in der Grenadierstraße. In kurzen, deftigen Szenen entwirft er gleichsam ein Sittenbild des kaiserlichen Deutschland. Seine obwaltende Gründlichkeit selbst bei den zahlreichen Randfiguren öffnet eine enthüllende Sicht auf den wilhelminischen Militarismus und dessen makabre Ausgeburt, den Untertanengeist, der ja Voigts Aktion erst ermöglichte.

Vielleicht hätte diese feinsinnige Zuckmayersche „Berliner Genremalerei" in der Inszenierung plastischere szenische Gestalt finden können. Zum Auftakt kokettiert Bühnenbildner Henning Schaller ein wenig mit dem hell beleuchteten Stuck des Bühnenportals. Märchenhaftes, Ironisches scheint bevorzustehen. Dann bestimmen in unübersehbarerer prosaischer Allgegenwärtigkeit zehn profane Türen die Szenerie. Mal sind's Zuchthaus-, mal Amtstüren. Selbst für die Wohnräume bilden sie den unerbittlich-nüchternen Hintergrund.

Auch Regisseur Christoph Brück mied die differenzierte Weitschweifigkeit des Bilderbogens. Er strich und komprimierte und nahm damit geringfügige Vergröberungen in Kauf. Er vertraute auf die vitale Selbständigkeit seiner Schauspieler. So begibt sich im auf sachlichen Realismus gestimmten Dekor ein theatralisch forciertes Spiel, der Berliner Posse näher als der Komödie.

Hans-Peter Reinecke gibt den Wilhelm Voigt zunächst als zuversichtlichen Staatsbürger, für den die Welt noch heil ist. Selbst mit dem Oberwachtmeister geht dieser Voigt geradezu souverän um. Und als er darauf sinnt, seine Angelegenheit im Potsdamer Polizeibüro auf eigene Faust zu regeln, ist da noch immer kein Protest. Zehn Jahre erneute Haft nimmt er hin. Die freundliche Aufnahme bei Schwester und Schwager nach der Entlassung gibt ihm noch einmal Zuversicht.

Doch dann wird er bitter, sarkastisch. Er begreift, daß dieses Staatssystem gegen ihn, gegen den Menschen überhaupt funktioniert. Und er hat dessen schwache Stelle entdeckt — die absolute Subordination des Bürgers im wilhelminischen Deutschland unter die Uniform. Gewitzt und mit ruhiger Selbstverständlichkeit landet er denn auch seinen Coup im Rathaus Köpenick. Voigt triumphiert — auf kurze Zeit zwar nur — über den wilhelminischen Staatsapparat. Insofern ist es richtig, nicht Zuckmayers versöhnlichen Schluß zu spielen, sondern auf Daten des historischen Voigt zurückzugreifen, der seinen Triumph genoß, wenn auch nur im Panoptikum.

Die unverdrossene, wachsende Selbstbewußtheit dieses Voigt, das völlige Identifizieren des Darstellers mit der Figur, rückt ihn allerdings merklich in die Zuschauergunst und läßt notwendige kritische Wertungen zu kurz kommen.

Diese finden sich — will mir scheinen — ausgeprägter im Spiel von Michael Gerber, der dem Bürgermeister Obermüller sparsam verfremdend eine bornierte, steife Würde verleiht, eine amtsstrenge Holzköpfigkeit, die ihre Gefährlichkeit hat. Sie findet sich auch im Spiel von Martin Seifert, der den Schwager, den Friedrich Hoprecht, leicht karikierend gibt als einen redlich-pedantischen Beamten, der in seiner einfältigen preußischen Gläubigkeit williges Kanonenfutter abgäbe.

Zu nennen sind noch Victor Deiß (Wormser), Jaecki Schwarz (Wabschke), Peter Hladik (Oberwachtmeister), Dieter Knaup (Zuchthausdirektor) und Angelika Perdelwitz (Frau Obermüller). Für passende, forsche Musik sorgte Henry Krtschil.

 

 

Neues Deutschland, 9. Oktober 1986