„Hamlet“ von Shakespeare am Leicester Haymarket Theatre London, Gastspiel im Berliner Hebbel-Theater, Regie Juri Ljubimow

 

 

 

Shakespeares Dänenprinz in Jeans und Pullover

 

Gellende Hahnenschreie. Zwei Gesellen — die Totengräber — hantieren an der Rampe an einem eisernen Grabkreuz. Ein mit Rollkragen-Pullover spartanisch gekleideter König Claudius zieht herein mit Gefolge. Er und seine Höflinge nehmen sich vom Kreuz schwarze Binden. Noch also ist Trauer in Dänemark um den alten Hamlet. Eine Wand rechts gerät in Bewegung, drängt den Hofstaat samt König vom Platze. Dahinter erscheint der Prinz.

Dies die ersten Eindrücke von Shakespeares „Hamlet" in einer Inszenierung von Juri Ljubimow, dem Chef des Moskauer Theaters an der Taganka. Der Regisseur inszenierte am Londoner Leicester Haymarket Theatre. Jetzt gastierte die englische Truppe im Hebbel-Theater in Berlin (West).

Die sich bewegende Wand ist Ljubimows zentraler Einfall: ein bühnenportalgroßer, grobmaschig ornamental geknüpfter dunkelgrauer, nach allen Seiten beweg- und drehbarer Wandteppich. Die zwei Totengräber heben ihn manchmal hoch, so daß ein Portal entsteht, durch das der König schreiten kann. Meist aber schlüpfen die Figuren ohne fremde Hilfe darunter weg. Hamlet kann dem dahinter lauschenden Polonius in die Nase kneifen. Wenn er betet, steht Claudius vorn an der Rampe rechts vom Vorhang, der quergedreht und in die Mitte der Bühne gezogen ist. Hinten dirigiert ihn der Geist seines Vaters, womit — wie übrigens auch bei anderer Gelegenheit — eine leicht spirituelle Note ins Geschehen kommt. Und links vom Vorhang, ebenfalls vorn an der Rampe, also unmittelbar neben Claudius, steht der zögernde Hamlet.

Der Vorhang kann, sich drehend, Figuren wegräumen, umstoßen oder auf die Szene treiben. In ihn drückt und mit ihm drangsaliert Hamlet Ophelia. Durch den Vorhang kann die irre Ophelia ihre Hand strecken, so daß die Königin erschrickt. Eine wahrhaft universelle theatrale Erfindung, diese flexible, durchlässige Wand. Stets ist sie gegenwärtig. Doch sie verselbständigt sich kaum. Immer dient sie dem zügigen Ablauf. Umbauten gibt es nicht. Als Zäsur der Handlung marschiert ab und zu ein Dudelsackpfeifer über die Szene. Er wie überhaupt die Musik (Juri Butsko und James T. Ford) harmonieren mit dem konzentriert wirkenden Ablauf.

Bündige Theatralik. Von wechselndem Licht plastisch gemacht. Keine formalisierten, gestelzten Aktionen. Shakespeares kräftige Sprache führt und bestimmt die Gebärden. Immer sind da Menschen vertretende Theaterfiguren.

Hamlet ist in der Darstellung von Daniel Webb, einem juvenil elanvollen Schauspieler in Jeans und Pullover, ein Dänenprinz von auffallend rationaler Sachlichkeit. Hier drängt ein wittenbergisch-vernünftiger Protestant auf Klarheit. Des Geistes Kunde empfängt er zwar wie in einem Ritual: Der Vater sitzt gar mit Frau hinter dem ebenfalls sitzenden, gebannt zuhörenden Sohn. Doch wenn Hamlet den Geistesgestörten vortäuscht, geschieht dies mit vernünftigem Kalkül, fast unmerklich. Wobei er oft Kommunikation mit dem Publikum sucht, als wäre es sein Vertrauter.

Groß ist Hamlets Ausgelassenheit, als der Mimen Spiel den König überführt hat. Groß ist allerdings auch der Tumult. Die Komödianten verlassen den Hof fluchtartig. Nachdem er unfreiwillig Polonius umgebracht hat, begegnet Hamlet dem König mit beißender Ironie. Er ist nun zunehmend verstört. Ophelia quält er regelrecht. Die schmächtige Veronica Smart gibt das geisteskranke Mädchen eindrucksvoll schlicht. Kindlich spielt sie mit Sandformen, zerbricht den Blumentopf. Claudius (Terence Wilton), der sich entdeckt fühlt, stößt sein „Gertrude, Gertrude" in einem vorwurfsvollen Ton hervor, als sei die Königin (Anne White) die eigentliche Drahtzieherin gewesen. Die Auseinandersetzung dann, das mittelalterliche Gemetzel, ist ästhetisch so dezent arrangiert wie die gesamte Inszenierung des Bühnenmagiers.

Ljubimow läßt Hamlet, der seinen humanistischen Idealen unter widrigen sozialen Bedingungen nicht treu bleiben kann, mit Würde untergehen. „Remember me!" sind dessen letzte Worte — vergeßt mich nicht. Und Fortinbras, der Okkupant und Repräsentant alter martialischer Ordnung, der angesichts Hamlets Niederlage frohlockende Sieger — ist bei Ljubimow gestrichen. Was auf dem Theater noch immer ganz einfach zu bewerkstelligen ist... Bravorufe. Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 23. Februar 1990