„Hamlet“ von Shakespeare am Deutschen Theater Berlin, Regie Heiner Müller

 

 

 

Müllers „Hamlet“  -  ein Großmarkt tiefgründiger, flirrender Kunstbilder

 

Stürmischer Beifall. Anhaltende Bravorufe. Nach einem achtstündigen Sitz-Marathon im Deutschen Theater Berlin. Zeremonienmeister Heiner Müller, zugleich Übersetzer, hatte sein aufwendiges „Hamlet“-Ritual nach William Shakespeare noch einmal hochgestylt und die monströs-lange, zwischen Aufsage-Monotonie und Rede-Gewalt unentschiedene Inszenierung mit einem ironisierenden Hinrichtungs-Spektakel beendet. Mit Sentenzen wie: Hamlet, du taugest nicht für dieses Leben!

An diesem Abend fungiert das Theater als Großmarkt tiefgründiger und grotesk flirrender Kunstbilder. Den Multi-Raum gliederte Erich Wonder, geweitet von den malerischen Horizonten des Paul Zündel vom Wiener Studio Brighella. Über dem Publikum schwebt ein als Fallbeil stilisierter Lautsprecher. Am Portal links und rechts prangen je zwei Monitore von Sony, genutzt freilich mehr zur Zerstreuung denn als Hinlenkung zur Bühne.

Dort, auf den Brettern, die nach wie vor allerhand bedeuten, predigt Heiner Müller die Identität von Welt und Bühne und erteilt eine einzige, eine vernichtende Zensur: unzureichend. Hamlet, der auf die Welt kam, sie einzurenken, ist ein glatter Versager. Dem Shakespeare war das noch nicht so richtig klar gewesen. Er hatte ihm noch einen tragischen Abgang zugebilligt. Müller gibt ihm a priori keine Chance. Bei ihm ist Hamlet der zwar geistvolle, aber lebensschwach scheiternde Prokurist menschheitlichen Anspruchs. In Haltung und Schritt unauffällig chaplinesk, im Gestus des kleinen Mannes, agiert er im Heiner-Müller-Look, im locker-weiträumigen schwarzen Anzug mit Weste. Wie ein hilfloses Knäblein manchmal, erbarmungswürdig aber nie.

Ulrich Mühe, der Müllers Titelfigur vorführt, hat vornehmlich zwei Konflikte abzuarbeiten: Hamlets Ödipus-Komplex und dessen Ohnmacht angesichts der Herausforderung der Geschichte. Dabei wird dem Schauspieler vom Inszenator eine Ausführlichkeit auferlegt, die sich zuweilen selbst im Wege steht. Die Fülle literarischer Adaptionen wie ablenkender Spieldetails befehdet Sinn-Zusammenhänge. Zudem strapaziert der formalisierte Hersage-Ton die Rezeptionslust des Zuschauers. Mühe ist immer dann glänzend, wenn er sich davon löst, sich Psychologie herausnimmt und Inhalte spricht. Damit spielt er sich in die Spitze der Schauspielerzunft deutscher Zunge.

Mühes Hamlet wird berichtet, der verstorbene Vater geistere nächtens in voller Rüstung durch das Schloß. Sein aktenkoffertragender Studienfreund und gefälliges Echo Horatio (Jörg-Michael Koerbl als Gast) verkündet's ihm sogar über Mikrophon. Dann stakt der Geist aber nackt herein. Nur das Geschlecht ist verhüllt. Der Kopf steckt im Visierhelm. Das muß den wittenbergisch Tugendhaften natürlich verwirren. Und diese schlimme Eröffnung! Dieses böse Ansinnen obendrein!

Hamlets Mißtrauen ist nur zu verständlich. Zumal die Staatsbürokratie des frischgekrönten Herrschers Claudius nicht seine geistige Heimat sein kann. Dieter Montags Polonius verkörpert Hofdienerei sehr dezent. Jörg Gudzuhns König umgibt sich mit dem Flair eines venezianischen Kaufmanns. Er redet geschäftig Sprechblasen. Aber er setzt immerhin nicht auf das Schwert, sondern auf diplomatische Raffinesse. Doch der Weg zur Macht war mörderisch. Was Hamlet bekanntlich ahnden soll.

Zwar verbannt der Prinz die neue Denkart Wittenbergs aus dem Buche seines Gehirns. Aber welcher Mann von Charakter könnte seiner modernen Weltanschauung so schnell abschwören! Hamlet jedenfalls kann es nicht. Der Nackte könnte der Teufel gewesen sein. Müllers Hamlet freilich hat schon nicht mehr die Kraft, nun dem Hofe mit Kalkül den Narren vorzugaukeln. Er flüchtet ins Spiel. So ist er den Schauspielern nahe. In die deklamatorische Hingabe an die Fiktion (Klaus Piontek vorzüglich als erster Schauspieler) lauscht er sich mit kennerischem Behagen hinein.

Die theatralische Oberführung des Mörders nutzt Müller für eine besondere Zeremonie. Der soeben entlarvte Claudius setzt seine Hofgilde in aller Ruhe Masken auf. Zwar verkrampft er sich anschließend hinter rotem Plafond zuckend auf dem Boden, aber so schnell ist er nicht kleinzukriegen. Sonst hätte ihn Müller ja auch in der Schloßpfütze plazieren müssen.

Der offenkundige moralische Sumpf im Staate hat sich nämlich zu einem plätschernden Bühnenweiher aufgespült, durch den jeder muß, der zum König oder gar zur Erkenntnis will. Hamlet trifft das logischerweise arg. Bevor er „Sein oder Nichtsein" brüllen darf, muß er im Wasser kobolzen. Wegen Verwässerung der Argumente wahrscheinlich. Leider tropft das Wasser nur aus dem Anzug, nicht auch aus den simultan mitlaufenden Monitoren.

Das kühle Naß forciert des Prinzen Galle. Stockend preßt er heraus: Bewußtsein macht zum Feigling. Wobei er dem Wahnsinn nahe ist. Er umarmt Ophelia (konfektioniertes Irretun von der Stange bei Gast Margarita Broich), schlägt ihr Blumen ins Gesicht, aber mehr im Ingrimm über die eigene Schwäche. Immerhin probt er ein wenig den Aufstand. Nachdem Claudius sein Vergehn-zum-Himmel-stinken-Gebet herzausschüttend dem Hamlet gebeichtet hat, verschont der den König und meuchelt wenig später pro forma — gewissermaßen zu Trainingszwecken — den Horatio. Im Gemache seiner Mutter schaut er in rührender Not auf das die Rache einklagende Gespenst. Dann schafft er einen verschämt-heißen Kuß auf Gertruds Lippen: einer wachs-kabinettigen Megäre (Dagmar Manzel). Er appelliert moralisierend an die Frau. Noch glaubt er, Übung könne die Natur umprägen. Doch die Begegnung mit Fortinbras' Hauptmann, einem Kriegs-Monster (Kostüme: Christine Stromberg), reaktiviert endgültig alle mittelalterlichen (ewig menschlichen?) Ehre-, Rache- und Blutgelüste.

Hier fügte der Autor seine „Hamletmaschine" aus dem Jahre 1977 ein, seine apokalyptische Vision vom Ende der Menschheit. In sich überstürzenden Assoziationen identifiziert sich Müller mit Hamlet und dessen Ohnmacht. Er nennt sich Clown im kommunistischen Frühling und sagt sich von Marx, Lenin und Mao los — denn da ist kein Traum mehr. Die Leiche von Rosa Luxemburg auf dem Bildschirm. Die Welt wird zurückgenommen, deklarativ, garniert mit verrätselten Figuren-Aktionismen.

Worauf des Laertes (Michael Kind) aufständischer Einfall in des Claudius Palast folgt. Mit komplettem Sicherheitsdienst, versteht sich. Die Welt läßt sich nicht zurücknehmen! Weshalb Hamlet schließlich ganz bewußt ins Schwert läuft. Er war zu aufgeklärt, zu humanistisch „verweichlicht" für dieses Dasein. Er endet — denn doch! — tragisch, weil er eben letztlich das neue Denken nicht los wird.

Freilich, hier ertappe ich mich beim Spekulieren. Müller tut alles, um den Schluß ironisch zu verfremden. Eine Symbolfigur betritt den Ort des Gemetzels. Fortinbras? Im Gestus des Gespenstes? Die Personifizierung des Goldes? der Dritten Welt? Im Ohr bleibt die Drohung: Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen. Noch unlängst hat Müller viel vom Träumen gehalten, das wir uns nicht nehmen lassen sollten. Doch derzeit scheint die Wahrheit in der Tat ein Fleischermesser.

 

 

 

Neues Deutschland, 27. März 1990