„Der rote Hahn“ von
Gerhart Hauptmann an der Volksbühne Berlin, Regie Helmut Straßburger und
Ernstgeorg Hering
Volkstheater – direkt, lebenskräftig
Anläßlich des 125.
Geburtstages Gerhart Hauptmanns bot die Berliner Volksbühne innerhalb einer
Woche lebenspralle Inszenierungen von vier seiner Dramen: das Possenspiel
„Schluck und Jau", die Berliner Tragikomödie „Die Ratten", die Diebeskomödie
„Der Biberpelz" und als Premiere die Tragikomödie „Der rote Hahn". Ein
weiterer Abend galt der Begegnung des 43jährigen Dichters mit der blutjungen
Schauspielerin Ida Orloff — ein besinnliches Programm mit dem Titel „Die Schauspielkunst
ist die ärgste Kupplerin".
Dieser Gedanke gab der
Woche gleichisam das Motto. Große, des Rühmens werte Schauspielkunst „
verkuppelte" den Dichter, seine die Zeiten überdauernde humanistische
Sicht auf die Menschen und ihre Tage mit heutig wachen Zuschauern. Mit dieser
Hauptmann-Würdigung ist die Volksbühne ihrem Namen vollauf gerecht geworden.
Helmut Straßbunger und
Ernsitgeorg Hering, Siegfried Höchst und Gert Hof, die Regisseure, und
Schauspieler wie Susanne Düllmann, Marianne Wünscher, Astrid Krenz, Günter
Junghans, Wilfnied Ortmann, Jürgen Rothert, Ezard Haußmann und Hans Teuscher
haben schöpferischen Sinn für diesen Dramatiker bewiesen. Mit den modernen, offenbarenden
Mitteln sozial-realistischer Schauspielkunst erschlossen sie einen
flexibel-unmittelbaren, naturwüchsigen Hauptmann Stil und damit den überaus
zeitfühligen Realismus des Dramatikers. Diese Woche jetzt in der Volksbühne hob
klarer ins Bewußtsein als das eine einzelne Inszenierung vermag, welchen
außerordentlichen und unverzichtbaren Gewinn an konkreter Menschenkunde Hauptmann
in das Theater eingebracht hat und nach wie vor einbringt.
Der Dichter wußte das
soziale Figuren-Ensemble im Milieu seiner Zeit hervorragend zu beobachten — die
Weber, Schuster, Waschfrauen, Beamten, Gendarmen, Künstler, Hausmeister, Dienstmädchen
— und genau und differenziert in lebensnahe dramatische Konstellationen zu verwickeln.
Die Waschfrau Wolff im
„Biberpelz" betreibt Wilddieberei, stiehlt Brennholz und schließlich den
neuen Biberpelz des Rentiers Krüger, um ihr Häuschen schuldenfrei zu bekommen.
Es ist etwa Februar 1887, die Zeit des Septennatskampfes um Bismarcks Heeresgesetze.
Amtsvorsteher Baron von Wehrhahn, kaisertreu bis in die Fußspitzen, herrscht in
seiner Amtsstube noch absolut. Günter Junghans spielt zwar gezielt-behutsam
auch schon die Karikatur, aber mit wippend selbstbewußtem, soldatisch straffem Gang
und mit gestrengem Gehabe stellt er vor allem den Respekt einflößenden Despoten
heraus. Die Wolff (Marianne Wünscher) duckt sich listig, Schiffer Wulkow (Ulrich
Voss) macht sich ganz klein. Rentier Krüger (Hans Teuscher) und Doktor
Fleischer (Hartmut Puls) suchen bei dieser Behörde vergebens ihr Heil. Der
Amtsschreiber Glasenapp (Herbert Sand) dienert und schikaniert unumschränkt.
Welcher Wandel hingegen
beim „Roten Hahn"! Die verwitwete Wolff, jetzt Frau des Schuhmachermeisters
Fielitz, läßt sich von der allgemeinen Hektik der Bauspekulationen im Berlin
der Jahrhundertwende anstecken. Sie drängt ihren Mann zur Brandstiftung, um mit
der Versicherungssumme ein neues Haus bauen und ins Geschäftsleben vordringen
zu können — Widerspiegelung des monopolistischen Booms bei den kleinen Leuten
im Randgebiet Berlins. Und soziale Gärung.
In Wehrhahns Amtsstube
weht nun ein anderer Wind. Beflissen untertänig dienert nur noch Glasenapp
(Jörg-Michael Koerbl als Gast), aber unsicher, ängstlich schon. Inmitten einer
Woge von unverhohlener Aufsässigkeit der Arbeiter und Bürger ist der stramme
Wehrhahn zur Karikatur des deutschen Obrigkeitsstaates geworden. Werner Tietze
meistert die Figur, indem er die wacker-bornierte Unverdrossenheit, mit der
dieser Baron in die hohle politische Phrase flüchtet, unmittelbar behauptet.
Im tragikomischen Gehalt
dieses dritten Aktes entdeckt die Regie groteske Züge, ohne zu überziehen.
Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering haben mit Akribie die historische
Veränderung erkundet, die Hauptmann getreu spiegelt. Ihre Inszenierung gewinnt
Wirkung, weil sie eine gewisse Redseligkeit des Autors mit klugen Strichen
reduzierten und dadurch die Vorgänge substantiell bloßlegten.
Zu spüren ist dies
bereits in den ersten Szenen des Stücks. Die Fielitz bearbeitet ihren Mann schlau
und hartnäckig. Wilfried Ortmann spielt die unsägliche Not dieses schon einmal
straffällig gewordenen Schusters, der immer mehr begreift, an welches Weib er
da geraten ist. Hilflos hängt er in seinen Kleidern, spricht sich, freilich
vergebens, selber Mut zu. Eine sehenswerte künstlerische Leistung.
Die Frau Fielitz wird
gespielt von Käthe Reichel als Gast. Ich habe noch immer ihre Shen Te in der
Rostocker DDR-Erstaufführung von Brechts „Der gute Mensch von Sezuan"
(1956) in guter Erinnerung, ihre bestrickende Herzlichkeit, Natürlichkeit und
Wärme damals. Für die Fielitz ist sie wohl einfach zu zart, zu filigran. Vor
allem fügt sich ihre episierend darlegende, ziehende Sprechweise nur spröd,
widerspenstig dem schlesisch-berlinerischen Dialekt. Und wenn die Darstellerin
laut wird, gerät ihr das schrill bis unverständlich. Aber in ihrer gerissenen
Härte gegenüber ihrer Umwelt überzeugt sie, speziell im Disput mit Rauchhaupt, dem
ehemaligen Gendarmen, ihrem Widersacher.
Das ist nun eine Szene,
deren objektive Absurdität von der Regie enthüllt wird und die einen Hauptmann
zeigt, der den Naturalismus bereits durchbricht. Rauchhaupts ältester,
geistesgestörter Sohn Gustav ist in einer Anstalt, der Brandstiftung verdächtigt.
Der hochbetagte Vater (Günter Junghans) geht verbittert und verbissen seiner
Ahnung von dessen Unschuld nach. Immer wieder kommt er zur Fielitz. Also sitzen
die beiden alten, grimmigen Leutchen vorm neu entstehenden Haus (Bühnenbild: Gabriele
Koerbl a. G.) beim Weine, belauern und attackieren einander. Die frischen
Dachbalken weisen in die Zukunft, doch die beiden Alten, das ist gewiß, werden das
fertige Haus nicht erleben. Eine absurde Situation. Sie ließe sich noch
schärfer, noch skurriler fassen.
Auch um den Kontrast zur
hinzuerfundenen sinnigen Rahmenhandlung zu betonen. Hartmut Behrsing hat eine
ironisch-kritische Musik komponiert, eine Melodie, die zunächst die Harmonie der
Gesellschaftssalons assoziiert, schließlich mit der militanten Marschmusik der
Feuerwehrkapelle endet — und nach dem Tode der Fielitz deren Sehnsucht nach
Teilhabe an goldener Zeit noch einmal als sich verflüchtigende Illusion
kommentiert.
In weiteren Rollen:
Martina Block (Leontine), Heide Kipp (Frau Schulze), Axel Werner als Gast
(Schmiedemeister Langheinrich), Hartmut Schreier (Schmiedegeselle Ede). Marian
Wolf als Gast (Gustav), Dietmar Terne (Doktor Boxer), Eckhardt Bogda (Gendarm
Schulze) und Florian Martens (Schmarowski).
Volkstheater in der Volksbühne: direkt,
unmittelbar, lebenskräftig, impulsgebend.
Neues
Deutschland, 17.November 1987