„Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, DDR-Erstaufführung am Volkstheater Rostock, Regie Benno Besson

 

 

Der Engel der Vorstädte

 

 

 

Mit der DDR-Erstaufführung des Parabelstückes „Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht hat sich das Volkstheater Rostock in die erste Reihe der Theater unserer Republik gespielt. Noch wichtiger ist: Brechts episches Theater, das Theater der nackten Erkenntnis, hat bei einem Publikum gesiegt, das zum ersten Male die desillusionierende Theaterkunst Brechts erleben konnte; erleben freilich nicht im althergebrachten Sinne, sondern eben im Sinne des bewußten, des betrachtenden Erlebens.

 

Einfach ist Brechts Parabel. Shen Te, ein armes Menschenkind in der Provinz Sezuan des vorrevolutionären Chinas, eine Prostituierte aus Not, beherbergt drei Götter, die auf die Erde gekommen sind, um gute Menschen zu suchen. Weil Shen Te ein guter Mensch ist, schenken ihr die Götter tausend Silberdollar. Für das Geld kauft sich Shen Te einen kleinen Tabakladen. Bald muß sie feststellen, daß man vom „Gut sein" in einer Ausbeutergesellschaft nicht leben kann, daß man vielmehr unter die Räder kommt. Shen Te jedoch will leben. Sie verkleidet sich als Vetter Shui Ta und läßt die armen Menschen für sich arbeiten. Doch die ausgebeutete Menge meint, Shui Ta habe Shen Te, den Engel der Vorstädte, ermordet, um sich deren Eigentum anzueignen. Man bringt Shui Ta vor Gericht, und dort enthüllt Shen Te die grausame Wahrheit: Der böse Shui Ta ist Shen Te, der gute Mensch von Sezuan! Shen Te ruft die Götter um Hilfe an, aber die ziehen sich in ihr Nichts zurück.

 

Brecht schließt in einem Epilog mit der Aufforderung ans Publikum, überall dort die Gesellschaftsordnung zu ändern, wo — wie einst in China — ein guter Mensch böse werden muß, um leben zu können.

 

Benno B e s s o n , der Gastregisseur vom Berliner Ensemble, hat in Käthe R e i c h e l, der „Grusche" der „Kreidekreis"-Inszenierung in Frankfurt (Main), eine überragende Darstellerin der Doppelrolle Shen Te/Shui Ta gefunden. Käthe Reichels Spiel als Shen Te ist von bestrickender Herzlichkeit, Natürlichkeit und Wärme und zugleich von einer hinreißenden schauspielerischen Intensität, gar nicht verfremdet im Sinne Brechts, sondern zutiefst durchlebt. Käthe Reichel ist eine überragende Sprecherin Brechtscher Verse, sie führte die Aufführung zum Sieg, und neben ihr zu bestehen, war für ihre Mitspieler nicht leicht. Erfreulich daher, daß das Ensemble trotz der ungewohnten Aufgabe mit ihr wuchs, so daß — abgesehen von einigen sprachlichen Mängeln — von einer geschlossenen Ensembleleistung gesprochen werden muß.     

 

 

Wochenpost, 28. Januar 1956