„Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ von Heiner Müller an der Volksbühne Berlin, Regie Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering

 

 

 

 

Wie Theater sich in Metaphern auflöst

 

Das Titel-Stenogramm „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" kündigt bereits an, was wir als DDR-Erstaufführung an der Berliner Volksbühne denn auch zu sehen bekommen: drastische szenische Kürzel, lose zusammengefügt zu einem theatralischen Mosaik über einen Stoff, trächtig wenigstens für drei Stücke herkömmlicher Bauart.

Der Theaterbilder-Phantast Heiner Müller setzt mit einer scharf karikierenden Collage, von ihm „Ein Greuelmärchen" genannt, preußische Geschichte und amerikanische Gegenwart abstrakt-künstlich zueinander in Menschheitliches meinende Beziehung. Und Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering, die Regisseure, bemühen sich weidlich, daraus einen Theaterabend zu machen. Die Veranstaltung bleibt letztlich esoterisch — zu ausgesucht für das Stammpublikum des großen Hauses, zu ambitioniert andererseits, als daß man einfach zur Tagesordnung übergehen könnte.

Heiner Müller schwört bekanntlich auf ein fabeldiffuses Theater, dessen Metaphern nicht sofort auf einen Begriff zu bringen sind, sich aber tief den Sinnen mitteilen und möglicherweise und bestenfalls später einmal in Erkenntnisgewinn umschlagen. Dies stellt sich hier vielleicht her, wenn man das Entstehungsdatum des Werkes berücksichtigt. Der Autor schrieb es in der Mitte der siebziger Jahre, einer Zeit, in der die Menschheit dem Atomrüstungswettlauf ohnmächtig ausgeliefert schien.

Um Rat und Antwort offenbar verlegen, suchte der Dramatiker damals in der Geschichte Erklärungen und Gründe dafür, was solch galoppierenden Verlust an Humanismus möglich macht. Er fand einen „Verursacher" —den preußischen Militarismus, der das Individuum seinen Machtinteressen skrupellos beugt und opfert. Und er ortete den aktuellen „Erben" — den US-amerikanischen Imperialismus, der die Existenz nicht nur des einzelnen, sondern des ganzen Menschengeschlechts provokant aufs Spiel setzt. Zugleich fabulierte und meditierte Müller neben diesem Grundthema über Eskalation von Gewalt, über Möglichkeiten und Positionen von Kunst in feudalabsolutistischer und in spätkapitalistischer Klassengesellschaft.

Die Crux des Stückes: Der Autor macht seine diskutablen Erkenntnisse und Meinungen teils an Bildern fest, die ob ihrer Chiffrestruktur (etwa „Kleist spielt Kohlhaas") weitgehend unentschlüsselbar bleiben, und teils an Bildern, die ob ihrer penetranten Vorliebe für die Winkel und Nischen der Gesellschaft (etwa „preußisches Irrenhaus") realistische Entdeckerlust des Zuschauers eher brüskieren denn stimulieren.

Und der große soziale und zeitliche Sprung vom Preußen Friedrichs II. hinüber zum Autofriedhof in Montana, gestaltet als ein schrundiger Alptraum des alternden, zweifelnden Gotthold Ephraim Lessing, überfordert meines Erachtens selbst das durchtrainierte Assoziationsvermögen des heutigen, durch das Fernsehen an schnelle und abrupte Bildwechsel gewohnten Theaterbesuchers.

Einmal mehr fällt auf: Müller hadert mit der ästhetischen Kategorie der Schönheit und sympathisiert mit sarkastischen Naturalismen, abstrusen Symbolen und possenreißerischen Vulgarismen. Alles in allem: Das Metaphern-Ragout des Textes zu überzeugender Bildkraft zu formieren, ist für jeden Regisseur ein wahrhaft abenteuerliches Unterfangen.

Mag es nun an überlieferten Sehgewohnheiten liegen oder an einem uralten, zähen, auch von Müller nicht umzustoßenden Theatergesetz — in den Szenen, in denen Lebensauffassungen nicht einfach deklarativ behaup­tet werden, vielmehr zwischen Menschen beredt etwas vorgeht, entfalten sich Schauspiel- und spürbar auch Zuschaukunst.

Exzellent ausgespielt finde ich das Ringen der Sächsin mit dem Witwenmacher Friedrich II. Da ist ein liebendes und liebehungriges Weib, das in aller Untertänigkeit vom großen König Gnade für ihren zum Tode verurteilten Gatten erbittet, erfleht, ja offenbar bereit ist, alles dafür zu geben, aber an einen Mann gerät, der dafür am allerwenigsten Sinn hat, der eingeschnürt ist in die Staatszwänge seines Amtes und zu schwach, um human reagieren zu können. Heide Kipp und Jörg-Michael Koerbl spielen sehr präzis, sehr subtil aberwitzig-komische, menschliche Abgründe aufreißende Situationen.

Hier zeigt die Regie Gespür für die nackte Konfliktdialektik und die rüde Drastik Müllerscher Einfälle. Straßburger/Hering reichern an, gliedern, konzentrieren, zerdehnen leider auch, suchen jedenfalls immer wieder Sinnfälligkeit, unterstützt von Jürgen Heidenreich und Manfred Fiedler, die im Bühnenbild das Skurril-Märchenhafte zwar akzentuieren, aber Kargheit bevorzugen, und von Hartmut Behrsing, dessen Musiken dezent kommentieren.

So gelingen die Sequenzen „Leben Gundlings", das böse Malträtieren des preußischen Akademiepräsidenten, und „Inspektion", der kontrastreiche Spaziergang Friedrichs II. mit Voltaire, zu nachvollziehbarer Theatralik. Astrid Krenz als Kronprinz Friedrich, Harald Warmbrunn als Gundling, Ulrich Voss als Friedrich Wilhelm und Florian Martens als Voltaire prägen sich ein. Studenten engagieren sich im Puppenspiel „Schule der Nation".

Bei der Lessing-Sequenz allerdings verheddert sich die Regie. Sie arrangiert die Begegnung, aber nicht die von Müller gewünschte Konfrontation des alpträumenden Aufklärers Lessing und seiner Figuren Nathan und Emilia Galotti mit aktuellen Symbolen einer bis zur Perversion deformierten bürgerlichen Gesellschaft: mit dem Müll eines Autofriedhofes und den darin in einer Unfallpose erstarrten Vertretern der amerikanischen Theater-, Film- und Unterhaltungsindustrie. Die Todesmaschine, der Roboter auf dem elektrischen Stuhl als mögliche Zeichen für die Inkarnation heutiger militanter Machtmaschinerie fehlen sogar ganz.

Aber im Lessing-Teil überfordert wohl schon der Autor die Szene. Hier will er zuviel auf einmal, hier löst sich sein fabeldiffuses Stück in einer Bilderschwemme auf. Lessings Schrei am Ende, sein halb erstickter humanistischer Protest gegen das zeremonielle Zuschütten eines Spartakus-Torsos durch Kellner und Bühnenarbeiter, diese letzte bombastische Metapher der Collage, mündet in der Inszenierung in einen filmischen Schwenk über die Straße Unter den Linden und wird damit zugleich zum letzten befremdlichen Rätsel des Abends.

 

 

 

Neues Deutschland, 8. Dezember 1988