50 Jahre Maxim Gorki
Theater Berlin
Vor fünfzig Jahren wurde das „Junge Ensemble“ -
bisher im Weimarer Schloß Belvedere zu Hause - in Berlin als Maxim
Gorki Theater sesshaft. Maxim Vallentin, gefühlvoller Regisseur, behutsamer
Pädagoge, aus dem Exil in der Sowjetunion nach Deutschland zurückgekehrt, hatte
seiner bis dahin im Lande herumreisenden Truppe von Absolventen des Deutschen
Theaterinstituts (u.a. Manfred Borges, Achim Hübner, Hans-Peter Minetti, Erich
Mirek) ein Domizil gegeben.
Die junge Schar spielte nicht nur einfach leidenschaftlich
Theater, sondern empfand sich zugleich als Botschafter. Im zerstörten Berlin,
menschliche Seelen so kriegswund noch wie deren Behausungen, wollte sie vom
Humanismus künden und vom neuen Leben, das aus dem Osten gekommen war. Zu den
Debütanten gesellten sich lebens- wie kunsterfahrene Künstler wie Lotte
Loebinger oder Marga Legal. Sie alle vereinte der unerschütterliche Glaube an
die notwendige und auch mögliche Veränderbarkeit des Menschen wie der
Gesellschaft.
Insofern war der Name des revolutionären russischen
Dichters Maxim Gorki für das neue Berliner Theater keineswegs zufällig gewählt worden.
Und die wieder aufgebaute ehemalige Singakademie am Kastanienwäldchen im Zentrum
der Hauptstadt bot sich als ein idealer Ort für intime, dem Menschen nahe
Bühnenkunst. Maxim Vallentin war durchaus Garant dafür. Er hatte die
Einfühlungs-Methode Stanislawskis, des berühmten russischen Theatergenies, vor
Ort studiert und versuchte nun, in Berlin Beispiele zu geben. Der Auftakt mit
der deutschen Erstaufführung des Schauspiels „Für die auf See“ des sowjetischen
Dramatikers Boris Lawrenjow ließ die Eigenart solchen Erlebnistheaters
erkennen, andererseits auch bereits ahnen, wie beengt ein sich allein auf
russische Stücke orientierter Spielplan sein würde. Vallentin korrigierte denn
auch recht schnell den Kurs und öffnete seine Bühne der Welt-, insbesondere
deutscher Dramatik. Er selbst blieb Gorki treu, inszenierte neben anderen Werken
des Dichters 1957 dessen „Nachtasyl“, eine psychologisch feinsinnige Aufführung,
die (mit einer Neubesetzung 1961) insgesamt 409mal auf dem Spielplan stand.
Credo seiner Arbeit für ein neues Volkstheater war
Vallentins Versuch, eine „Bühne der Wahrheit“ zu schaffen, die sich entwickeln
sollte in Spiegelung „gesellschaftlicher Wahrheit“. Womit ein Programm
postuliert war, dessem Kern dieses Theater in ständiger Reibung mit Land und
Leuten über Jahrzehnte treu blieb: produktive Hinwendung zum Leben und Vermeiden
aller kurzlebigen, modischen Spielereien. Keine „feste Burg“ sollte das „Gorki“
sein etwa gegen das epische, verfremdende Theater Brechts am Schiffbauerdamm,
wie heute behauptet wird, sondern im Interesse theatraler Vielfalt in Berlin
eine Bühne bewusster Pflege emotionaler Identifikation mit Autor und Figuren.
Neue Impulse versprach sich der müde gewordene Komödiant
Vallentin von jungen Mitstreitern. Er holte Horst Schönemann an sein Haus,
einen am Theater der Bergarbeiter in Senftenberg erfolgreichen jungen
Regisseur, und Hans-Dieter Mäde aus Erfurt. Zeitgeist fand in der Tat
unmittelbarer, unverstellter auf die Bühne. Erfolgreiche Inszenierungen Mädes
jener Zeit waren „Und das am Heiligabend“ von Blazek sowie - und
das so aufregend wie umstritten - „Lohndrücker“ / “Korrektur“ von Inge und
Heiner Müller (1958) und „Nacktes Gras“ von Alfred Matusche (1958). Ein
ausgesprochener Renner war 1962 Horst Schönemanns heiter-besinnliche
Inszenierung der „Reise um die Erde in 80 Tagen“ von Kohout nach Verne, die
über dreihundert Aufführungen erlebte. Schauspieler wie Sabine Krug, Friedel
Nowack, Walter Jupé, Helmut Müller-Lankow und Willi Narloch hatten sich in
Berlin einen Namen gemacht. Und das „Gorki“ hatte sein Publikum gefunden.
1968 übernahm Albert Hetterle, bisher Schauspieler am
Haus, die Intendanz des Theaters und entwickelte die aktuell
gesellschaftskritische Linie des Spielplans weiter. Autoren wie Helmut Baierl,
Jürgen Groß, Peter Hacks, Claus Hammel, Hermann Kant, Rainer Kerndl, Alfred
Matusche, Ulrich Plenzdorf, Armin Stolper und Rudi Strahl kamen zu Wort.
Hetterle, der oft selbst Regie führte, vor allem bei aktuellen Stücken
sowjetischer Autoren (z.B. 1976 „Protokoll einer Sitzung“ von Gelman),
überraschte 1977 mit einem entrümpelten „Nachtasyl“ Gorkis. Im übrigen scharte
der Hausherr junge, die Originalität des Ensembles mitprägende Regisseure um
sich. Wolfram Krempel fiel auf insbesondere mit einfühlsamen Inszenierungen
neuer Stücke von Peter Hacks, Rolf Winkelgrund mit intelligenten Erkundungen
polnischer Dramatik und Thomas Langhoff mit erhellend neuer Sicht auf deutsche
und russische Klassik.
Inzwischen war die Truppe (u.a. Manja Behrens, Jenny
Gröllmann, Monika Hetterle, Monika Lennartz, Ruth Reinicke, Swetlana Schönfeld,
Ursula Werner, Ulrich Anschütz, Hilmar Baumann, Wolfgang Hosfeld, Hansjürgen
Hürrig, Uwe Kockisch, Klaus Manschen, Reinhard Michalke, Alfred Müller, Götz
Schubert, Hilmar Thate und Jochen Thomas) gereift und was sie nun bot, war
moderne, die Zuschauer ergötzende sozial-realistische Ensemblekunst. Hinreißend
und mir noch heute gut in Erinnerung Thomas Langhoffs „Drei Schwestern“ von Tschechow
(1979) und dessen temperamentvolle, lebensfrohe Inszenierung des „Sommernachtstraum“
von Shakespeare (1980); aufrührend „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Kesey
(1982, Regie Rolf Winkelgrund); nachdenklich stimmend Claus Hammels Komödie
„Die Preußen kommen“ (1986; Regie Karl Gassauer).
Konflikte blieben nicht aus, vor allem im Umgang mit der
real existierenden Gegenwart. Die Geldgeber liebten es nicht, öffentlich
kritisiert zu werden. Neue Stücke wurden abgesetzt, von Strahl, von Kerndl;
aber auch durchgesetzt. Höhepunkt lebendigen zeitgenössischen Theaters war 1988
Thomas Langhoffs Uraufführung der „Übergangsgesellschaft“ von Volker Braun, in
welchem Schauspiel das Scheitern sozialistischer Hoffnungen tragikomisch
durchgespielt wurde.
Die Bündelung schöpferischer Energie zur Selbstbesinnung
und Neuorientierung der Gesellschaft, die bis zur Wende die Strahlkraft des
Ensembles ausmachte, ist seither verloren gegangen; denn die gemeinsamen
sozialen Interessen verflüchtigten sich. Aber die Truppe behauptete sich
zunächst (obwohl viele Künstler das Haus verlassen haben oder mussten), kämpfte
unter Hetterle um Wahrung antifaschistischer Positionen, ablesbar an
Tabori-Aufführungen wie „Mein Kampf“ (1990, Regie Thomas Langhoff) und
„Goldberg-Variationen“ (1993, Regie Carl-Hermann Risse). Und die neuen
Mächtigen von Senat zu Senat wagten es nicht, das Theater zu schließen.
Indessen: Die geistige Orientierung auf bundesdeutsche
Verhältnisse hat auch die „Gorkier“ angepasst und vereinzelt. Kein verschworenes
Ensemble mehr, das um Ideale kämpft, eine Truppe nun wie andere auch in Berlin
und im Lande, von Intendant Bernd Wilms ab 1994 auf Stars orientiert, die die
Zuschauer locken sollten. Das funktionierte 1996 mit Harald Juhnke und später
Katharina Thalbach als „Hauptmann von Köpenick“ von Zuckmayer (Regie: Thalbach)
und 1999 mit Ben Becker als Franz Biberkopf in „Berlin Alexanderplatz“ nach
Döblin (Regie: Laufenberg). In der Regie von Uwe Eric Laufenberg war 1995 mit
der Farce „Slawen!“ von Tony Kushner der neue Zeitgeist drastisch ins Haus
gezogen und mit der sozialistischen Vergangenheit gründlich aufgeräumt worden.
Das Theater zählt inzwischen viele neue Namen. Jacqueline
Macaulay sei genannt, die sensible Kupáwina, und Fabian Krüger, der umtriebige
Apollon in „Wölfe und Schafe“ von Ostrowski (Regie Volker Hesse). Die jungen
Darsteller haben unterschiedliche Spielauffassungen mitgebracht. Sozial
konkretes Schauspielen ist ihnen fremd, wird von der Regie auch nicht mehr
gepflegt. Sie setzen auf individuelle Leidenschaft und Befindlichkeit. Und noch
ist kein geistiger Impetus gefunden, der neuerlich binden und zusammenhalten,
gar eine ästhetische Originalität des Hauses etablieren könnte.
Immerhin: Unter der Intendanz von Volker Hesse, der, vom
Neumarkt Theater Zürich kommend, das Haus 2001 übernahm, scheint streitbarem
Humanismus eine neue Chance gegeben zu werden. Das deutliche Berufen auf den
Namenspatron anlässlich des Theater-Jubiläums lässt hoffen.
Neues Deutschland, 30. Oktober 2002