„Warten auf Godot“ von
Samuel Beckett am Staatsschauspiel Dresden, Regie Wolfgang Engel
Deftiges Clownsspiel
Am Staatsschauspiel Dresden hat Regisseur Wolfgang Engel als DDR-Erstaufführung Samuel Becketts Hanswurstiade „Warten auf Godot" inszeniert. Er gewann dem 1906 geborenen irischen Dramatiker, der alles andere als ein Realist sein will, wirklichkeitsbezogene Aspekte ab, ohne dessen stilistische Manier zu verletzen. Das große Warte-Mysterium der Vagabunden Estragon und Wladimir, eines schon klassischen Clowns-Duos, wird zu einem anregenden Theaterabend.
Bekanntlich begründeten die bürgerlichen
Dramatiker Beckett, Adamov, lonesco und Genet Anfang der fünfziger Jahre mehr oder
weniger unabhängig voneinander, was seither weltweit „absurdes" Theater
genannt wird und mannigfaltige Deutungen erfuhr. Letztlich reflektierten diese
Schriftsteller in ihren Werken die Nachkriegszeit in Westeuropa, insbesondere
die Ängste und Psychosen des neuerlich unter kapitalistischer Entfremdung
leidenden Menschen.
Sie faßten die Symptome aber nie direkt,
geschweige denn enthüllend, sondern „transponierten" sie auf eine
metaphernreiche, oft befremdlich, gar widersinnig anmutende Kunstebene. So viel
wenigstens ließ und läßt sich meist assoziieren: Das abstrakte Individuum
Mensch meditiert passiv über das Leben, träumt kleine Sehnsüchte, empfindet die
Welt aber als feindlich und sich in ihr wie in einem Niemandsland ausweglos
verloren.
Insofern können Stücke von Beckett ohne
sonderliche Mühe als Bestätigungen einer angeblich angebrochenen Endzeit
interpretiert wenden, was im bürgerlichen Theaterbetrieb hinreichend geschehen
ist. Wendet sich das sozialistische Theater diesem Autor zu, muß es eine eigene
Sicht zu finden suchen. Die Dresdener Inszenierung ist meines Erachtens ein
diskutables Angebot.
Wolfgang Engel gibt kein ästhetisierendes
Psychodrama, sondern ein deftiges Clownsspiel. Auf dem Proszenium ist eine Zirkusarena
aufgebaut (Ausstattung: Frank Hänig), der Parkettraum ist mit weiten
Stoffbahnen zu einem Zelt modelliert. Rund um die Manege sitzt das Publikum,
also auch auf der Bühne. So entsteht zirzensische Kommunikation. Der Zuschauer
wird nicht hineingesogen in die Tiraden von Halbwahrheiten, Allgemeinplätzen,
Klischees und Geistesblitzen, sondern bleibt Distanz wahrender Betrachter der
sonderbaren Kurzweiligkeiten von Estragon und Wladimir.
Diese beiden nun sind bei Engel keine
abgelebten, resignativen, Nihilismus verbreitenden 70jährigen Männer, die
bereits ein trauriges Leben lang vergebens auf den mysteriös-jenseitigen, aber nie
erscheinenden Godot gewartet haben. Sie sind zwei junge, recht mobile Landstreicher,
offenbar arbeitslos, aber noch ungebrochen, noch voller Hoffnung. Sie vertreiben
sich die Langeweile nicht in einer Endzeit-Situation, sondern in einer etwas
gewollt wirkenden, frühlingshaften „Konjunkturlaune". In ihren Ahnungen wird
Godot zu einer Art Boss, der ihnen möglicherweise einen Job vermitteln könnte.
Ihr Verhalten ist von abgrundtiefer, tragikomischer Naivität.
Ein gewichtiges Kriterium für seine Lesart
findet der Regisseur interessanterweise bei Beckett selbst, und zwar in den
Gestalten Pozzo und Lucky. Mit diesem zweimal auftretenden Herr-Knecht-Paar
wird — realistisch interpretiert — drastisch vor Augen geführt, worauf Estragon
und Wladimir eigentlich so lammgeduldig warten: auf ein brutales, erbarmungsloses
Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis. Lucky (Matthias Nagatis) ist ein von
Pozzo (Roland May) mit der Peitsche zum Hund geprügelter, degradierter Mensch.
Die beiden Vagabunden begehren zwar instinktiv-menschlich gegen Pozzos
Quälereien auf, lassen sich aber groteskerweise immer mehr in das Terror-System
verstricken und zu Handlangern umfunktionieren. Insofern ist Beckett ein verblüffend
sarkastischer kritischer Realist.
Die klärende, ganz und gar unaufdringliche
soziale Dimensionierung des anscheinend zeitlosen und angeblich undeutbaren Beckettschen
Gaudis durch Wolfgang Engel ist eine beachtliche künstlerische Leistung. Dabei könnten
die jungen Darsteller (Lars Jung als Estragon und Peter Kube als Wladimir) die
Figuren prägnanter fassen, schon allein dadurch, daß sie die diversen Spiele im
Spiel deutlicher absetzen.
Neues
Deutschland, 7. Mai 1987