„Ghetto“ von Joshua Sobol am Maxim Gorki
Theater Berlin, Regie Carl-Hermann Risse
Spiel und Tanz unter dem Fallbeil
Der 1939 in Tel Aviv geborene Joshua Sobol glaubt an die bewegende, die humanistische Kraft des Theaters. Solch unbeirrbare missionarische Hoffnung legitimiert sein Stück „Ghetto", seine Theatralisierung des unsäglichen Überlebenskampfes unter faschistischer Gewalt. Im Ghetto in Wilna, wo ursprünglich 76000, nach „Selektionen" schließlich noch 16 000 Juden lebten, wurde unter ständiger Lebensgefahr, doch mit Duldung der SS, Theater gespielt. Obwohl sich der Stoff komödischer Verwertung nachhaltig widersetzt, hat ihn Sobol dramatisiert. Als Würdigung. Als Mahnung.
Das Stück mit Musik und Tanz, inzwischen in
16 Sprachen übersetzt, 1984 von Peter Zadek an der Berliner Freien Volksbühne
erstmals in Europa inszeniert, fand jetzt am Berliner Maxim Gorki Theater in
akribischer Regie von Carl-Hermann Risse neu erschütternde szenische Gestalt.
Zu einer Zeit in Deutschland, die seit 1945 noch nie so alarmierend Brechts
Mahnung ins Bewußtsein ruft: Der Schoß ist fruchtbar noch! Der lang anhaltende
Beifall war denn zwar Anerkennung für hervorragende künstlerische Leistung,
zugleich aber wohl auch demonstrative politische Stellungnahme.
Bis zur Pause freilich schien der
ungeheuerliche Konflikt mit Theaterspiel in blecherner, ein überdimensionales Fallbeil
symbolisierender Kulisse (Ausstattung Peter Schubert) einfach nicht faßbar. Selbst
die Assoziation der Teuflischkeit des SS- Offiziers Kittel, die sich sehr wohl
herstellte, blieb irgendwie unangemessen. Die Figur des Bibliothekars Kruk
(Daniel Minetti) schien aktuell recht zu haben, wenn sie für damals argumentierte:
Auf dem Friedhof spielt man kein Theater.
Das ist das ästhetische Problem des Stückes.
Vorgeführt wird das Schicksal des Wilnaer Ghetto-Theaters, das Jacob Gens, der
Chef der jüdischen Polizei und schließlich Leiter des Ghettos, gegründet hatte.
Ganz unmittelbar, um Juden Arbeit zu beschaffen, sie vor der Deportation in die
Todeslager zu retten. Und mittelbar, um jüdische Kultur und Widerstandswillen
lebendig zu erhalten. Doch die Auftritte der Truppe, dieser existentielle
Todestanz am Rande des Abgrundes, im Nachhinein auf die Bühne gebracht, erfordern
artifizielle Perfektion, Schönheit für das Grauenhafte und zugleich äußerste Zurückhaltung,
sozusagen sklavische Dokumentation. Das ging im beengten Bühnenraum des
Maxim Gorki Theaters nicht immer auf.
Srulik, der Puppenspieler (Ulrich
Anschütz), und seine Puppe (Irene Kleinschmidt), auch Chaja, die Sängerin (Susanne
Jansen), treffen das Aberwitzige der Situation, lassen vergessen, daß man im Theater
sitzt. Aber die Tänze, die Lieder der Truppe erschienen mir zu ausführlich, vermittelten
nur bedingt, was sie sollten, die aktivierende, die ungebrochene Kraft der ums Überleben
Kämpfenden.
Nach der Pause kulminiert der
Konflikt. Und das Wahnsinnige des Geschehens verdrängt ästhetische Erwägungen.
Holocaust pur. Der Judenrat hat über Diabetiker zu entscheiden, wer gerettet,
wer selektiert werden soll. Sodann verbietet Gens seiner Truppe die Feier zum
1. Mai, weil er Ruhe braucht, nicht Rebellion. Dies eine Szene, in der Jacob, gespielt
von Klaus Manchen, in seiner widersprüchlichen Rolle besonders exponiert wird.
Kollaboriert er mit den Nazis? Ist er ein besessener Nationalist? In der Auseinandersetzung
mit dem geschäftstüchtigen Weiskopf (Hilmar Baumann), der skrupellos Geld macht
in seiner Fabrik für die Aufarbeitung von Wehrmachtsuniformen, wird deutlich,
daß Gens um jedes jüdische Leben ringt. Und deswegen Leben opfern muß.
Die herausragende schauspielerische
Leistung des Abends ist Götz Schuberts Darstellung des
kunstsinnigen SS-Offiziers Kittel, eines Liebhabers des von der Reichsmusikkammer
verbotenen Jazz. Schubert, sprecherisch exzellent, spielt diesen Kittel
zunächst immer wieder fast in die Sympathie: der smarte, gebildete, anständige
Deutsche. In der Orgie aber demontiert er ihn restlos, ein widerliches Scheusal
wird schaubar. Noch nach Stalingrad, als sich die Rote Armee bereits siegreich
Wilna nähert, mäht Kittel die Theatertruppe gnadenlos nieder. Und man hat sehr
gut im Ohr, was er vorher orakelte: Unsere Verbrechen sind schnell vergessen.
Insofern sei hier nachdrücklich
aufmerksam gemacht auf Sobols aktuelle sorgenvolle Frage: „Behandelt Sie deutsche
Regierung die Neonazibewegung mit der gleichen Konsequenz und Entschlossenheit,
mit der sie die Baader-Meinhof-Gruppe zerschlug, oder verhält sie sich eher
nachlässiger gegenüber den Neonazis?"
Neues
Deutschland, 16. Oktober 1992