„Gespenstersonate“ von August Strindberg am Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter

 

 

 

Verfall hinter opulenter Fassade

 

Alle dürfen sie ihrem Affen ein klein wenig Zucker geben. Das ist an sich nicht Brauch am Deutschen Theater in Berlin. Aber Friedo Solter, der August Strindbergs zwischen Irrationalität und Rationalität angesiedelte „Gespenstersonate" aus dem Jahre 1907 inszenierte, stiftete seine Schauspieler dazu an. Keck ironisieren sie die bierernst gemeinte Sozialkritik, indem sie die vernunftwidrigen Dialoge immer mal wieder ganz trocken real kontern. Das macht die klamottig gespenstigen Figuren erträglich und den Abend möglich.

Nichts geschieht, nichts wird mitgeteilt in diesem Kammerspiel, was man nicht schon wüßte über die Oberschicht bürgerlicher Gesellschaft. Der eben verstorbene, als Toter herumgeisternde Konsul, der steif-vornehme Oberst, dessen mumifizierte Frau, der kauzige Baron, sie alle sind korrupt. Sie wohnen in einem hochherrschaftlichen Haus. Innen ist's trotz gleisnerischer Ausstattung Narren-, Zucht- und Leichenhaus in einem. Ein Ort des Verfalls und des Todes. Von außen aber erweckt es verführerisch Neugier.

Natürlich erliegt ein Student der Verlockung. Der junge Archenholz läßt sich von Direktor Hummel, einem achtzigjährigen Immobilienhändler im Rollstuhl, der Uneigennützigkeit vorgibt, aber seine eigene Rechnung mit den Hausbewohnern zu begleichen sucht, benutzen, um in das Haus zu kommen und der schönen Tochter des Oberst nahe zu sein. Was er nicht weiß: Sie ist die Tochter Hummels und der „Mumie", der Frau des Oberst, die seit 20 Jahren in einem Wandschrank haust. Die Herrschaften haben also auch noch kreuz und quer miteinander Liebe gemacht. Jedenfalls das, was manch einer in diesen Kreisen darunter versteht.

Hummel erscheint uneingeladen zum Gespenstersouper, entlarvt den Oberst als Hochstapler, der weder Adliger noch Offizier ist. Doch die „Mumie" ist lebenskräftig genug, prompt das Pharisäertum des Alten zu attackieren, ihm seine Verbrechen vorzuhalten und ihn zum Sterben in den Wandschrank zu schicken. Was er auch tut. Wahrhaft gespenstig...

Strindberg, der sich von Beethovens d-moll-Klaviersonate opus 31 Nr. 2 zu seinem Kammerdrama anregen ließ, hat die Gespenster, was zweifellos nicht deren Art ist, in eine strenge ästhetische Form gezwungen. Drei Akte: Verführung Archenholz' vor dem Hause. Gegenseitige Aufdeckung aller Verbrechen im roten Salon. Tiefe Enttäuschung des Studenten im giftigen „Hyazinthenzimmer". Das Fräulein ist nämlich irre und nicht mehr lebensfähig. Vergebens zerreißt der Student die über Lüge und Fäulnis gezogenen Schleier des schönen Scheins. Laut ist seine Schimpfe auf die Welt, auf Jesus und Buddha gleich mit.

Famose Rollen also, Leute von unterschiedlich gespenstischer Menschlichkeit. Christian Grashof gibt den alten Hummel als einen intelligenten, zwar beingelähmten, aber noch energischen Rächer. Kay Schulze zeigt einen unbekümmert naiven Studenten Archenholz, der sich zwar verwickeln läßt, aber am Ende sarkastisch und geläutert auf Distanz zu gehen weiß. Eine herrlich boshafte „Mumie" lebt Jutta Wachowiak. Otto Mellies ist ein trefflich hohler Oberst, Katrin Klein eine kapriziös irre Tochter.

Die Regie schafft mit ungewöhnlichen, bedeutsam scheinenden, irgendwie Überraschung ahnen lassenden Haltungen und Gesten der Figuren eine Atmosphäre des Geheimnisvollen. Bühnenbildner Hans-Jürgen Nikulka baute das von Unheimlichkeit umwitterte Haus mit kalt-elegantem Interieur. Und Reiner Bredemeyer komponierte eine stimmige, die Situationen ausfühlende Musik.

Des Autors eigenes Urteil bestätigte sich. „Ich wußte selbst kaum", äußerte er über sein Stück, „was ich geschrieben hatte, ahnte aber etwas Erhabenes, das mich erschauern ließ." In der Tat. So wunderlich kann Kunst sein. Was Strindberg frustriert ins Gespenstische verzerrte und damit ästhetisch schlitzohrig ins „Erhabene" hob, ist nichts als schauriger Alltag.

 

 

Neues Deutschland, 5.Oktober 1993 (Nr.233)