„Gespenster“ von Henrik Ibsen im Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Kazuko Watanabe

 

 

 

Tragödie auf dem Plüschsofa

 

Im Zentrum der ansonsten kahl-nüch­ternen Bühne steht eine mit einem kostbaren Plaid drapierte vornehme Couch. Darauf residiert in selbstgefälliger Ruhe Hausherrin Helene Alving (Barbara Nüsse). Die zu dessen Lebzeiten vom Kammerherrn Alving betrogene Witwe ist apart gekleidet wie eine ausgemusterte Diva des Showbusiness und wird von Scheinwerfern in magisch verklärendes Licht getaucht. Sie rekelt sich kaum, hält tapfer Contenance und nur gelegentlich verlässt sie ihre feste Burg.

Ibsens Familiendrama »Gespenster« aus dem Jahre 1882 wieder einmal auf ei­ner Berliner Bühne. Ohne dieses typisch bürgerliche Gesellschaftsstück kommt konventionelle Spielplanung offenbar nicht aus. 1906 zur Eröffnung der Kam­merspiele Max Reinhardts hatte Edvard Munch ein akkurat naturalistisches Büh­nenbild gebaut. Ibsens Figuren fanden den ihnen gemäßen sozialen Lebensraum. Hundert Jahre später wird ihnen im Berli­ner Maxim Gorki Theater stimmiges Mi­lieu nicht zugebilligt.

Die Japanerin Kazuko Watanabe hat als Bühnen- und Kostümbildnerin eine zeitlos abstrakte Szene installiert, einen magi­schen Ort, an dem schon mal Stühle »ge­spenstig« umfallen - und dort hinein hat sie als Regisseurin die Lebensbeichten der Figuren so malerisch wie gefällig entlang des Textes arrangiert, den Volker Canaris neu übersetzte und straffte. Entstanden sind sozusagen Symbolgestalten der gän­gigen Heuchelei wie Pastor Manders oder Tischler Engstrand (Ulrich Anschütz) und des unschuldigen Leids wie Frau Alving oder ihr Sohn Osvald, der das ausschwei­fende Leben seines Vaters zu büßen hat. So macht Ibsens solid gebaute Dramatik, obwohl in ihrer psychologischen Feinsin­nigkeit kaum aufgespürt, noch immer Ein­druck.

Vor allem Pastor Manders darf sich ent­falten, der Mann der Kirche, der konzili­ant Tugend predigt, aber militant einfor­dert, selbst wenn die Wahrheit dabei unterdrückt wird. Burghart Klaußner gibt ei­nen jovialen Herrn von grundgütiger Red­lichkeit, rüstig, nett und umgänglich, nicht ohne zarte Empfindungen fürs andere Ge­schlecht, offen fürs Geschäftliche und ei­gentlich alles Menschliche, aber dogma­tisch bis in die Seele. Wenn es um die »Verteidigung« von Wahrheit und Ideal geht, von Glaube und Moral, kann er laut werden und herrisch. Allerdings: Dies Spannungsfeld zwischen christlich sich gebärdender Heuchelei und »brutalst-möglicher« Aufklärung hat zumindest in der bundesdeutschen Gesellschaft so un­geheuerliche Dimensionen angenommen, dass Ibsens Stück fade Vorspeis von gestern bleiben muss, wenn heuchlerisches Verhalten einer Gestalt nicht wenigstens kritisch gewertet, sondern neutral ausge­stellt wird, als habe die Regie keine Mei­nung dazu.

Auch die anderen Figuren hätten durch differenziertere Handhabung gewonnen. Jacqueline Macaulay als Regine, nette, aber etwas zickige Puppe, hat die auf de­ren Sohn erpichte Haustochter der Alving vor allem mit gezieltem Po-Schwenken herzustellen und dem demonstrativen Servieren von Sekt. Und Fabian Krüger als Osvald, hier nicht Kunstmaler, sondern Cellist, hat nicht den Geisteskranken zu spielen, sondern einen noch recht resolu­ten, trocken-aufmüpfigen jungen Mann, der - soll's die plötzlich ausbrechende Krankheit sein oder burschikoser Über­mut? - wie wild durch die Kulisse zu toben hat.

Am befremdlichsten für mich, dass man einen westdeutschen Bühnenstar wie Barbara Nüsse nach Berlin holt und dann eigentlich nur zur Schau stellt. Diese Frau Alving ruht auf der Couch wie in ihrem Schicksal - vom Pastor dorthin komman­diert und zwei Jahrzehnte ausgeharrt. In­sofern sogar eine plausible Demonstrati­on. Aber Barbara Nüsse hätte sehr wohl auch eine Frau zeigen können, die aus ih­rer Trostlosigkeit, ihrer Lähmung just in der Zeit erwacht, in der sie Abschied neh­men muss von ihrem todkranken Sohn. Zwei Regungen prägen sich ein. Wenn sie sich, artig auf der Couch, verzweifelt an den Pastor klammert, der sich entsetzt zu entziehen sucht. Und wenn sie am Ende, auch dies etwas demonstrativ, ihren tod­kranken Sohn behutsam in das Plaid ein­schlägt und auf ihren Schoß nimmt.

 

 

Neues Deutschland, 4. April 2002