„Das andere Gesicht“ von Werner Heiduczek am Schauspielhaus Leipzig, Regie Karl Kayser

 

 

 

Vorstoß zu alten Fragen?

 

Das Stück scheint sich rationalem Urteil zu entziehen. In seiner ästhetischen Eigenwilligkeit ist es gut geeignet, unsere Dispute um größeren Ideenreichtum der Dramatik, um theatergemäße Spiegelung des Lebens und um naiveren Umgang mit dem Wirklichkeitsstoff zu beleben.

Eine Frage drängt sich vor, anscheinend gar nicht mit der poetischen Idee des Stückes zusammenhängend, eine alte Frage: Bedeutet unbefangenerer Umgang mit Wirklichkeitsstoff zwangsläufig Aufgabe sozialer Determinanten? Mir scheint, wenn sich ein Autor ausdrücklich großen gesellschaftlichen Widersprüchen zuwendet, ist der Verlust an Realismus desto erheblicher, je unbekümmerter er auf soziale Konkretheit der zwischenmenschlichen Geschehnisse verzichtet. Unterläuft es ihm, läßt sich meines Erachtens Gültiges und Bewegendes über die komplizierte gesellschaftliche Wirklichkeit dieser Welt künstlerisch schwerlich aussagen. Gewiß würden wir einen Fehler begehen, wollten wir unsere neuen dramatischen Werke absolut an Brecht messen. Andererseits haben wir einiges über Theater von ihm gelernt, unter anderem, daß die »Figuren auf der Bühne durch gesellschaftliche Triebkräfte« bewegt werden sollten.

Werner Heiduczeks Figuren reden zwar viel von Revolution, aber ihre gesellschaftlichen Triebkräfte, ihre soziale Herkunft und ihre Positionen im Klassenkampf bleiben diffus. Gestaltet ist ein Bauernaufstand in einem kleinen Land irgendwo in Lateinamerika, geführt ohne soziales Programm, sondern aus dem Bauch und mit allerlei Versprechungen für die Kämpfenden. An der Spitze der Aufständischen stehen die in die gleiche Frau verliebten Brüder Ferencio und Tarcisius. Ferencio ist der militärische Kommandeur, Tarcisius sein Berater. Der Kampf währt in offener Schlacht zwölf Jahre, aber die Kämpfenden agieren in einem Spielraum, in dem es keine Notwendigkeit gibt, sich politisch, militärisch und ideologisch wahrhaft revolutionär zu organisieren. In diesem Spielraum ist nicht gültig, daß sich am Ende unseres Jahrhunderts auf diesem klein gewordenen Erdenrund jede Erhebung, bei Strafe ihres Unterganges, antiimperialistisch konstituieren, sich ihrer potentiellen Bündnispartner versichern und ihrer sozialen Stoßrichtung bewußt werden muß.

Die kubanische Revolution unter Führung Castros zum Beispiel hätte ihr zehntes Jahr nie erlebt, wären nicht die ... Weltanschauung und die revolutionären Erfahrungen der Kommunisten dieser Welt während des erbitterten antiimperialistischen Kampfes in das geistige und materielle Arsenal aufgenommen worden. Ähnlich entwickeln sich die nationalen Befreiungsbewegungen in Angola und Mocambique. Und die Erfahrungen im arabischen Raum signalisieren, wie schnell nationale Befreiungsrevolutionen in Gefahr geraten, wenn sie ihre antiimperialistische Stoßrichtung aufgeben.

Solche konkreten, von der Weltgeschichte reich gelieferten gesellschaftlichen Determinanten brachte Heiduczek nicht ein. Seine fiktive Revolution kann nur in sich und für sich begriffen werden. In ihrer allgemeinmenschlichen ästhetischen Spielwelt mutet sie an wie eine Maßarbeit für brisanten Theaterzauber. Ein Nachteil? Schließlich ist es legitim, daß der Autor für seine poetische Idee als Sujet eine Revolution erfindet. Schon bei Aristoteles läßt sich nachlesen, daß der Dichter im Unterschied zum Historiker nicht berichtet, was geschehen ist, sondern was gegebenenfalls hätte geschehen können. Was Heiduczek geschehen läßt, ist wahrscheinlich. Es hätte irgendwo so geschehen können. Und im Sinne Lessingscher Dramaturgie ist auch die Fabel gut komponiert. Warum also dje Frage nach sozialer Konkretheit der zwischenmenschlichen Geschehnisse? Weil meines Erachtens die im so strukturierten Sujet gut komponierte Fabel zwar stimmig ist hinsichtlich der Charaktere, aber unstimmig hinsichtlich der gesellschaftlichen Umstände, in denen sie handeln. Und das hat Folgen für die Figuren und die ambitionierte poetische Idee des Stückes.

Zunächst zur Fabel: Nachdem die Revolution gesiegt und die neue Staatsmacht sich etabliert hat, soll dem im Kampfe gefallenen Ferencio ein Denkmal errichtet werden. Tarcisius, der Präsident, hat das Standbild bei Marillo in Auftrag gegeben, einem renommierten, ihm befreundeten Bildhauer. Marillo ist fast fertig mit seinem Werk, aber unzufrieden. Er vermutet die Quelle für seine Unzufriedenheit nicht bei sich und seinen Schwierigkeiten, dem legendären Volkshelden ein angemessenes Denkmal zu setzen, sondern in dem Bilde, das die Lebenden sich inzwischen vom Toten gemacht haben. Er begibt sich auf die Suche nach dem »wahren« Bild vom Helden.

Marillo verspricht sich Impulse für sein Schaffen, wenn er herausbekommt, ob das Kind Theresas, der Geliebten Ferencios, vom Bruder war. Er erhofft sich Impulse, wenn er erfährt, ob Theresa durch Ferencios eifersüchtige Schuld, ins Gefängnis geriet. Schließlich erhofft er sich Impulse, wenn er erkundet, wie Ferencio kurz vor dem Sieg zu Tode kam. Offiziell heißt es, ein Scharfschütze der Schwarzmützen habe ihn getroffen. Dieser Version mißtraut Marillo. Er erfährt, daß der jetzige Präsident den Bruder umgebracht hat. Der Präsident selbst verhilft ihm zu dieser Information. Der Schuß auf Kommandeur Ferencio fiel, als dieser — dem Sieg schon nahe — einen Befehl zu ändern gedachte. Tarcisius war nicht einverstanden. Schweren Herzens und in der Meinung, dem Bruder gehe es lediglich um persönliche Macht, erschießt er ihn. Der Kampf hatte zwar zwölf Jahre getobt, aber in der Kommandozentrale wurde noch immer völlig subjektiv-willkürlich geschaltet und gewaltet.

Aus der sozial unkonkret gesehenen Revolution ergeben sich also ästhetische Konsequenzen. Hätte der Autor eine wahre nationale Volksrevolution gestaltet, wäre es ihm schwergefallen, .die Schlüsselszene seines Stückes so ganz und gar als individuelle brudermörderische Abrechnung zu fixieren. Im Leben mag's passieren. Zufällig. Irgendwo. Ist das zur Kunst zu erheben? Sind damit realistische Aussagen zu machen? Tarcisius hat zwar recht, wenn er dem Bruder vorwirft, gegenrevolutionär gehandelt zu haben, als er einen Gouverneur laufen ließ, um mit dessen Tochter schlafen zu können, dem freigelassenen Gouverneur aber neue militärische Aktionen ermöglichte. Tarcisius hat recht, die Argumente haben sogar zum Klassenkampf Bezüge, aber sie bleiben privat, ohne gesellschaftliche Relevanz, da keine revolutionäre Organisation besteht. Sein Todesschuß ist subjektive Willkür, von keiner gesellschaftlichen Kraft historisch legitimiert. Ein Rebell mordet einen Rebellen. Ferencios Tod ist traurig, nicht tragisch. So gerät die lebenspralle und mit Akribie zusammengebaute Geschichte unversehens in die Nähe dessen, was ich einen effektvollen Reißer zu nennen geneigt bin. Womit allerdings ein Genre in unsere Dramatik eingebracht wäre, das Förderung verdient. Heiduczeks poetische Idee indessen: »Das Kunstbild eines Volkshelden sollte nicht einseitig das von der herrschenden Macht etablierte, sondern das absolut objektive, das >andere< Gesicht spiegeln« — sie läßt sich m. E. mit dieser Story und in diesem Genre nicht realistisch verkünden. Ganz offenkundig stellt sich also letztlich nicht mehr her als Allgemeingültiges zum Phänomen Mensch, nämlich allgemeine Polemik gegen Einseitigkeit in der Betrachtung von Persönlichkeiten, gegen Verarmung des Menschenbildes. Für einen Reißer ist das nun wiederum recht viel, zumal dies von Heiduczek mit dramaturgischem Können gestaltet wird.

Marillos bohrendes Suchen ruft den Lebenden Erinnerungen ab, die als Rückblenden eingespielt werden und die Figuren in jeweils sehr prägnanten Konfliktsituationen (Kind, Gefängnis, Mord) vorstellen. Der tote Ferencio tritt als dramatische Gestalt auf. Dadurch wird das Ganze poetisch verklärt, hier und da stilisiert, manches rhetorisch abgehandelt. Insgesamt erhält die Fabel einen Gestus des Aufdeckens, des unbedingten Untersuchenwollens eines möglicherweise Kriminalfalles. Auch wird die Neugier des Zuschauers geweckt auf das unalltägliche Schicksal ungewöhnlicher Figuren. Die im Stück erfaßten und effektvoll ausgetragenen allgemeinmenschlichen Probleme — des kunst- und wahrheitsbesessenen Bildhauers Marillo, der an unerfüllter Liebe zehrenden Theresa, des um seine Tochter barmenden Gebirgsbauern Aurelio, der aufständischen, rivalisierenden Brüder Ferencio und Tarcisius — ergeben ein Kaleidoskop dramatischer Aktionen.

Karl Kayser hat das Stück denn auch mit theatralischer Verve und Sinn für das Genre (Ausstattung im Kellertheater: Jochen Schube) in Gang gebracht. Das Spiel der Leidenschaften zieht vorüber wie ein in Szene gesetzter Alptraum, vehement und pausenlos. Da wird die Expressivität der Vorgänge zur gestalteten theatralischen Äußerung, zur heißen Unerbittlichkeit der Abläufe. Fast scheint das auf Wirkung zielende Geschehen die Intimität einer Kellerbühne zu sprengen, andererseits ist es klug und überschaubar in sie hinein arrangiert.

Günter Grabbert gibt den Marillo wie das idealisierte Prinzip edler künstlerischer Wahrheitssuche, nichts relativierend, Unverschämtheiten billigend, vital, streng auch gegenüber sich selbst, zugleich gar nicht heldisch, eher mit einem Anflug von kleinbürgerlicher Kurzsichtigkeit. Die Auseinandersetzungen der Brüder verlaufen als hitzige Dispute, leicht theatralisiert in der Gebärde. Kurt Kachlickis stürmender und drängender Ferencio hat etwas von der Lauterkeit eines Karl Moor, ansonsten viel allgemeine Leidenschaft. Friedhelm Eberles Tarcisius schießt aus Verzweiflung, nicht aus Berechnung, was die Szene nun allerdings nicht rettet. Die Bürde der Macht trägt er tapfer, ihre Würde nicht achtend, wissend und in sich gekehrt, vertrocknet-redlich. Jutta Klöppel spielt die Theresa unprätentiös, nicht als Hure, sondern als Opfer der Umstände. Ihr junges Bauernmädchen liebt treuherzig offen, eher aus Neugier denn aus Verlangen. Ihre reife, emanzipierte Theresa agiert in exaltierter Zerrissenheit, noch immer ein wahre Liebe suchendes Weib. Bemerkenswert Fred Delmares skurriler Aurelio, feinsinnig genau, sehr schön kräftig in der Figur.

 

 

 

Theater der Zeit, 2/1977