„Germania Tod in Berlin“ von Heiner Müller in der Freien Volksbühne Berlin, Regie B.K.Tragelehn

 

 

 

Die ewigen Maurer für die Mächtigen dieser Welt

 

Authentische Inszenierungen der Stücke Heiner Müllers sind selten. Seine Texte bieten der Regie Freiräume, die verführen. Oft wuchern Bilder über die Gedanken. Arrangements bekommen Eigenleben. Selbst ein Theatermagier wie Robert Wilson („Hamletmaschine" 1986 im Hamburger Thalia-Theater) ist nicht gefeit. Anders B. K. Tragelehn. Er sucht texttreffende Bilder. Er formt die Müllersche Legierung, die lakonische Kargheit und explosive Dialektik seiner Dialoge und Monologe, zu gestochen klarem Spiel. Das faszinierte 1985 bei der Dresdner „Umsiedlerin", das überzeugt jetzt bei „Germania Tod in Berlin" im Theater der Freien Volksbühne Berlin.

Die Aufführung im nüchternen Rahmen Axel Bases ist eine unerbittliche, saubere Bestandsaufnahme zum Thema „Deutschland in diesem Jahrhundert mit Zwischenspiel Deutsche Demokratische Republik". Resultat: eine Ahnung. Ausgerechnet dem verkommenen „Arbeiter-und-Bauern-Staat", scheint es, ist das vorläufige „Aus" des „Germania"-Deutschland zu danken. Eine Erkenntnis, zu früh für Historiker, fast zu platt für aktuelles Theater. Aber verborgen in den kompakten Szenen, von Tragelehn angespielt, weil er Müller spielt. Und darum auch nicht die einzige sich anbietende Assoziation.

Der aus dem ersten Weltkrieg heimkehrende Soldat begrüßt seine Frau und eilt zur Revolution. Was nur halb gelang, gelingt 1949: Gründung der DDR. Aber schon mit Merkmalen des künftigen Debakels. Statt Demokratie für die Mehrheit des Volkes - Diktatur einer Partei. Und entsetzlicher Ballast aus Geschichte und Gegenwart: Nibelungen-Tradition, faschistischer Größenwahn, stalinistische Willkür. Dazwischen die Bürger, auf deren Schultern Geschichte ausgetragen wird und von der doch ein jeder in seiner Zeit, zufällig oder notwendig, einen kleinen Zipfel auch in seiner Hand hält. Woraus die weithin unbeachteten „kleinen" menschlichen Tragödien resultieren.

Der Soldat (Thomas Hodina) aus dem Jahre 1918, der sich 1949 an sein Leben erinnert und an die Bonzen im Schloß, die „Karl und Rosa an die Wand" stimmten, und daran, wie die geschlagenen Proleten „ihren Himmel wieder einrollten". Der sterbende Arbeiter Hilse (Peter Brombacher), der Streikbrecher vom 17. Juni 1953, der seinen Traum von den roten Fahnen über Rhein und Ruhr mit ins Grab nimmt. Der junge Maurer (Andreas Potten), der nach dem Lebensglück faßt und dessen Mädchen (Sophie Rois) sich als Hure entpuppt. Der sich erinnernde, der sterbende und enttäuschte Arbeiter - die ewigen Maurer für die Mächtigen dieser Welt. Tragelehn setzt hier unsentimental emotionale Akzente. Das betrifft. Das bewegt.

Was kaum darstellbar scheint, oft jämmerlich klamottig gerät, etwa die Szene „Heilige Familie", ist bei diesem Regisseur ein extraordinäres Kabinettstück. Thomas Hodina liefert eine frappierende Hitler-Studie, fern vom Klischee, ganz individuell gefaßt, genau im karikierenden Gestus, im Markieren dieser unsäglichen Kreatur. Dazu Thomas Förster als Goebbels, Barbara Morawiecz als Germania, Stefan Wieland, Jörg-Michael Koerbl und Günter Zschäckel als die Heiligen Drei vom wohlgesonnenen internationalen Kapital. Selten wurde der deutsche Faschismus auf der Bühne so souverän komödiantisch vernichtet. Trefflich auch Ulrich Kuhlmann (Clown 1) und Max Gertsch (Clown 2) in ihrer grotesken „Militarisierung" des Müllers von Potsdam durch den König von Preußen.

Die Aufführung ist zu empfehlen. Sie rangiert ohne Zweifel an vorderster Stelle im bisherigen Angebot dieser Berliner Saison.

 

 

 

Neues Deutschland, 10. Dezember 1990