„Germania Tod in Berlin“ von Heiner Müller am Berliner Ensemble, DDR-Erstaufführung, Regie Fritz Marquardt

 

 

 

Panorama deutscher Geschichte

 

 

Die Politszenen „Germania Tod in Berlin" von Heiner Müller inszenierte Fritz Marquardt als DDR-Erstaufführung am Berliner Ensemble. Er hat sich bereits an der Volksbühne mit Stücken dieses Dramatikers auseinandergesetzt, hat also Erfahrung im Ausdeuten Müllerscher theatraler Aphorismen. Mein Eindruck von der Vorstellung, die ich sah: Zwar bleiben einige Vorgänge — etwa das „Nachtstück" — der erfinderischen Phantasie des Zuschauers überlassen, aber das zentrale, den Dichter bewegende Motiv von der schweren Geburt eines neuen Deutschlands gewinnt — ins Symbolische gehoben — überzeugend szenische Gestalt.

Daran hat das Bühnenbild von Rarl Kneidl (BRD) als Gast durchaus Anteil. Er baute eine zwar aufwendige, weit in den Zuschauerraum hineingeschobene Plattform, die das Geschehen aber an das Publikum heranbringt. Ein großes Portal im weißen Rundhorizont und eine Arena auf der Drehscheibe der Hauptbühne zitieren antikes Theater ebenso wie Zirkus. Die hellen, relativ neutralen Spielanzüge der Akteure bedienen je nach Situation beide Aspekte, das Erhabene oder das Clowneske.

Mit der in den Jahren 1956/71 entstandenen Szenenfolge holt Heiner Müller gleichsam in nachträglicher sarkastischer literarischer Abrechnung auf die Bühne, was seit 1945 politische Realität in Europa ist: der totale Zusammenbruch Germanias, das unwiderrufliche Ende des verbrecherischen faschistischen deutschen Reiches.

Dabei kann er nicht alle geschichtlichen Hintergründe ins Spiel bringen, andererseits beschwört er die Nibelungensage, auch Cäsar, Napoleon. Für den Historiker mögen Fragen offenbleiben und sicher auch für manche der Zuschauer. Aber viele der szenischen Sequenzen, ihr brüsker, zuweilen banaler Realismus, hat eine geistige Stoßkraft, der sich der Zuschauer schwerlich entziehen kann. Die dramaturgische Methode, historische Ereignisse zu kompilieren, beispielsweise die Novemberrevolution 1918 und die Gründung der DDR 1949, fordert dazu heraus, in geschichtlichen Zusammenhängen zu sehen und zu denken, wie es im Theater nicht alltäglich ist.

So enthüllt sich mit dialektischer Konsequenz: Germania ging unter in einem beispiellosen politischen, militärischen und geistigen Inferno — doch aus dem unabsehbaren Chaos erwuchs auf deutschem Boden, zunächst zwar schwach noch und mit dem „Germania-Erbe" belastet, das historisch Neue, die Arbeiter-und-Bauern-Macht. Dieser gewaltige revolutionäre Prozeß hat bei Heiner Müller wenig repräsentative, eher atypische, weil zu statuarische Lebensausschnitte, andererseits gewinnt er möglicherweise gerade durch das verfremdet Fragmentarische seine künstlerische Vitalität — zumindest in Fritz Marquardts profunder Inszenierung und dank dem Engagement der Schauspieler.

Schon am Beginn, in der Szene „Die Straße 2 - Berlin 1949", in der Hermann Beyer den alten Mann mit Kind spielt, wird durch dessen eindringlich mahnendes Erinnern der Novembertage, als die kämpfenden Arbeiter „ihren Himmel wieder einrollen" mußten, ein aufrüttelnder emotionaler Akzent gesetzt.

Dann gibt Beyer den Maurer Hilse. Sein Name reizt zum Vergleich mit dem alten Weber in Gerhart Hauptmanns Drama, der sich bekanntlich tunlichst aus allen sozialen Kämpfen heraushält. Müllers Hilse hingegen ist überzeugter Kommunist. Wo er steht, kämpft die Partei. Die Szene „Das Arbeiterdenkmal — Bau", in der Hilse am 17. Juni 1953 von jugendlichen Konterrevolutionären fast zu Tode gesteinigt wird, und die Szene „Tod in Berlin 2 — Krebsstation", in der der sterbende Hilse seine fiebernde Vision hat von der roten Rosa und von den roten Fahnen über Rhein und Ruhr, erzählen knapp markante Daten aus einem entbehrungsreichen Leben.

Hermann Beyer weiß unaufdringlich zu spielen, mit außerordentlicher innerer Spannkraft, mit einem Ton in fester Stimme, in dem die Hoffnungen und die Schmerzen von Generationen deutscher Proletarier mitklingen. Ein unscheinbarer Held, ein Held dennoch von antiker Größe. Solch eine Arbeitergestalt ist selten auf unseren Bühnen. Und es ist beglückend zu erleben, mit welch menschendarstellerischem Sinn hier Regie und Schauspieler zu Werke gehen.

Um die in gewissem Sinne fabelführende Gestalt des Hilse gruppiert der Autor sein Figurenensemble. Da ist der Aktivist (Arno Wyzniewski) zu ungewohntem Auszeichnungsakt beim Präsidenten (Stefan Lisewski), da sind der Kommunist (Arno Wyzniewski) und der Nazi (Hermann Beyer) in harter Auseinandersetzung im Gefängnis, da sind Arbeiter unterschiedlichster Herkunft (Axel Werner, Michael Kind, Herbert Olschok, Stefan Lisewski), da sind Kleinbürger (Klaus Hecke, Franz Viehmann), Prostituierte (Corinna Harfouch, Annemone Haase, Christine Gloger). Die Mehrfachbesetzungen, die die Regie vornahm, können irritieren. Der junge Maurer (Michael Kind) und das junge Mädchen (Corinna Harfouch), obwohl noch scheue Kinder der neuen Zeit, geben der tragischen Schlußszene Perspektive.

Die grotesken Vorgänge im Führerbunker sind nur mit grober Uberzeichnung spielbar. Marquardt verzeichnet dabei nicht. Hervorragend Angelika Waller als hysterisch keifender Hitler. Kirsten Block markiert den als schwangere Megäre vorgegebenen Goebbels. Die Germania (Renate Richter) tritt mir zu unlädiert schick auf. Als sogenannte Ehrenkompanie und in zahlreichen weiteren Nebenrollen bewähren sich Studenten des 2. Studienjahres der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch".

Heiner Müllers imaginative Politszenen sind alles andere als ein zügig lesbares Geschichtsbuch. Sie können und wollen es nicht ersetzen. Aber sie provozieren wache Neugier auf historische Zusammenhänge.

 

 

 

Neues Deutschland, 26. Januar 1989