„Stadt der Gerechtigkeit“ von Lew Lunz an der
Volksbühne Berlin, Regie Andreas Kriegenburg
Die Stadt der Gerechten wird liquidiert
Vor Beginn der Vorstellung wirbeln im Foyer der Berliner Volksbühne dreißig Trommler ihre Schlegel, daß einem der rebellische Klang in den Körper dringt. Aufgeputscht in seiner Erwartung darf man sodann einen dunklen Theaterraum betreten, erhält aber eine chinesische Taschenlampe in die Hand gedrückt. Damit kann man sich die Akteure, die im Hintergrund des Saales schon mal zu agieren beginnen, selbst aus der Finsternis herausleuchten.
Regisseur Andreas Kriegenburg,
Castorfs Mitstreiter für ein Theater des Widerspruchs, hat sich allerhand
einfallen lassen, um die Uraufführung des Politspektakels „Stadt der Gerechtigkeit"
von Lew Lunz effektiv zu machen. Der 1901 in St. Petersburg geborene, mit 23
Jahren in Hamburg verstorbene Autor ist ein später Verwandter des Aristophanes.
Er hat seine agitatorische Attacke gegen eine abstrakte soziale Utopie 1923
geschrieben, als er begann, sich von den revolutionären Vorgängen in seiner
Heimat zu distanzieren, und in jugendlichem Eifer simpel hochrechnete, daß eine
Kommune absoluter Gerechtigkeit und Gleichheit schlechterdings unmöglich ist.
Daß das junge Sowjetrußland,
vertreten durch Trotzki und Lunatscharski, solch heißspornigen, naiv-kritischen
Kabarettext nicht ertrug, so daß Lunz 1923 nach Deutschland emigrierte, ist eines
der tragischen Kapitel des gescheiterten Versuchs, ohne kapitalistische
Ausbeutung besser zu leben. Das Stück, das in der DDR 1988 vom Henschel-Verlag
vorgestellt wurde, nach 70 Jahren in launiger Interpretation zur Uraufführung
zu bringen, ist ein Verdienst der agilen Theatertruppe vom Berliner Rosa-Luxemburg-Platz.
Lunz ermutigt nicht gerade, ein sozial
gerechtes Gemeinwesen aufzubauen. Die Menschen, verkündet er, sind einfach
nicht geeignet dafür. Bei ihm folgen einige halbverhungerte Soldaten und ein
Doktor (Herbert Sand) einem Kommissar (Gerd Preusche) durch die Wüste, um die
Stadt der Gleichheit zu finden, die sie in Rußland vermuten. Welch plebejische,
wenn nicht gar lumpenproletarische, nur mit diktatorischer Strenge
zusammenhaltbare Meute da unterwegs ist, führt der Regisseur ausführlichst vor.
Der trostlose Haufe kommt tatsächlich
an im Reich ewiger Sonne. Dort thronen die Ältesten (Harald Warmbrunn, Ulrich
Voß, Dietmar Huhn) in dunkelblauen Einheits-Monturen auf Schaukeln. Sie regieren
in selbstzufriedener Ruhe. Nun werden sie aufgescheucht. Der soeben angekommene
Kommissar okkupiert eine Schaukel und läßt sich von seinen Gefolgsleuten revolutionären
Schwung geben.
Die anfängliche Betriebsamkeit der
Neulinge schlägt in reines Schmarotzertum um. Die konkret Lebendigen kommen mit
den abstrakt Gleichheitlichen nicht zurecht. Und umgekehrt. Denn Gleichheit heißt
bei Lunz: Nicht lachen, nicht weinen, nur arbeiten und nach Schema lieben. Was wirklich
lebendigen Menschen auf die Dauer natürlich nicht behagt. Die folgen ihrem Trieb.
Und das kann Mord heißen, Vergewaltigung.
Eine einprägsame Szene ist die
Liquidierung der abstrakten Gerechten durch die konkret Ungerechten, wobei das
ganze Staatsgebäude (Bühne Bert Neumann) zusammen fällt, sich aber ein Gerechter
auf eine Säule zu retten vermag - und mit seinem sympathischen hymnischen
Pfeifen dem Kommissar die Schau stiehlt. Was er büßen muß.
Das Stück gehört ohne Zweifel zum
literarischen Gut derer, die nicht aufhören, eine bessere, gerechtere Welt zu
erstreben. Mögen sich viele Zuschauer finden, die unvoreingenommene geistige
Reibung mit sozialen Utopien noch für menschlich halten. Insofern stimmte der
einhellige Beifall optimistisch.
Neues
Deutschland, 17./18. Oktober 1992