„Die Geisel“ von Brendan Behan am Deutschen
Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff
Hohe Kunst der Komödianten
Für Brendan Behans Bühnenspektakel „Die
Geisel" hebt sich im Deutschen Theater ein verheißungsvoll bunt
schillernder Vorhang. Theatralisch außerordentlich farbig geht es denn auch her
in dieser bravourösen Inszenierung von Thomas Langhoff. Zum Auftakt tanzt das
Ensemble mit der Perfektion einer Showtruppe (Choreographie: Emöke Pöstenyi) nach
harten, peitschenden Rhythmen einen „wilden irischen Jig" und reißt das
Publikum zu erstem Beifall hin.
Dann beherrscht Schauspielkunst die Szene (Bühnenbild,
leicht expressionistisch: Pieter Kein), immer wieder ergänzt und forciert durch
furiose Tänze und sentimentale oder aggressive Lieder (Musik: Uwe Hilprecht).
Zunächst ergötzen Dietrich Körner als Pat und
Gudrun Ritter als Meg Dillon. Sie spielen einfach himmlisch ein in Haßliebe verbundenes
altes Ehepaar. Körner gibt den Pat als einen Mann von grimmiger Bissigkeit, die
sich meist an Meg austobt. Und sie bleibt ihm nichts schuldig. Gudrun Ritter
kreiert ein dummes, schlampiges und keifendes Luder von selbstbewußtem Temperament.
Die Dillons bewirtschaften im irischen Dublin
ein heruntergekommenes Mietshaus, das zur Absteige für Matrosen, Freudenmädchen,
Strichjungen und allerlei undurchsichtige Existenzen geworden ist — und nun
Schauplatz eines grotesk-komischen Geiseldramas wird.
Pat hat an den irischen Freiheitskämpfen
teilgenommen und dabei nicht nur ein Bein, sondern auch alle Illusionen
verloren. Voller Resignation lebt der Veteran der Irischen Republikanischen Armee
(IRA) in den Tag hinein und versucht, sich aus terroristischen Anschlägen
herauszuhalten. Aber das gelingt nicht. Ein IRA-Qffizier bringt ihm Leslie Williams
(Tobias Langhoff) ins Haus, einen gekidnappten jungen englischen Soldaten, der
als Geisel für einen im nordirischen Belfast zum Tode verurteilten Terroristen festgehalten
werden soll.
Der Erfinder dieser Figuren, der in den Slums
von Dublin geborene Ire Brendan Behan (1923 bis 1964), kannte sich aus in dem
Milieu, das er beschrieb. Als 14-jähriger Bursche schon hatte er am Kampf der Republikaner
teilgenommen, auch im Gefängnis gesessen deswegen. Sein Pat hat durchaus
autobiographische Züge. Und die Geschichte um Leslie, die er sich 1958 von der
Seele schrieb, war geboren aus der Einsicht, daß in veränderter historischer
Situation individual-terroristische Verzweiflungsaktionen von Teilen der IRA
nur noch absurd und oft genug tragisch waren.
Welch originelle, dramaturgisch chaotische
Mischung bei Behan nun Politdrama, Kriminalkomödie, Volksstück, Musical und Trauerspiel
auch immer eingegangen sein mögen und welch eigene Art hintersinnigen irischen
Humors im Stile der Shaw, O'Casey, Synge und Beckett bei ihm auch aufblühen mag
— unüberhörbar ist sein Ruf nach Vernunft, nach Beendigung des Tötens unschuldiger
Menschen.
Diese poetische Mahnung akzentuiert Regisseur
Thomas Langhoff durch die geheimnisvolle Spannung, die er zwischen dem gefangenen
Leslie und den Bewohnern des Hauses aufkommen läßt: Pat und Meg Dillon, die Dirnen
Colette (Johanna Schall) und Ropeen (Ursula Staack), die Strichjungen Rio Rita
(Ulrich Mühe) und Prinzessin Grazia (Ivan Gallardo), der Küster Mr. Mulleady
(Rolf Ludwig) und Miss Gilchrist (Margit Bendokat). Sympathie für Terroristen
empfinden sie nicht. Pat engagiert sich nur unter Druck. Sobald es indessen um
vermeintlich patriotische Gefühle geht, will sich keiner lumpen lassen, entlädt
sich über Leslie befremdlicher Haß wie eine manische Krankheit. Gleich drauf
kann das Völkchen wieder gesellig sein und Händel mit dem unbeteiligten
russischen Matrosen (Horst Lebinsky) viel wichtiger nehmen.
Das Schicksal des unschuldigen Leslie
beschäftigt alle und jeden auf seine Weise. Da ist der bornierte „Musjö",
ein ehemaliger Kommandeur der IRA, der noch immer glaubt, wichtige Fäden in der
Hand au halten. Reimar Joh. Baur liefert die köstliche Studie eines in Würde
Vertrottelten. Da ist der unruhig herumstreunende IRA-Offizier: Volkmar
Kleinert gibt ihn als einen fahrigen, leicht derangierten Verschwörer. Da ist der
Freiwillige, der als Wachposten vor Leslies Zimmer ausharren muß. Jan Josef
Liefers zeigt einen dußlig-willfährigen Kumpan. Da ist die einfältige Miss
Gilchrist, die ein fromm verbrämtes Interesse entwickelt. Margit Bendokat
spielt ein possierlich schrulliges ältliches Fräulein. Und da ist schließlich
Teresa, das Stubenmädchen.
Teresa, eine davongelaufene und bei Pat
untergetauchte Klosterschülerin, verliebt sich Hals über Kopf in Leslie.
Inmitten dieses Pfuhls käuflicher Liebe, der Trunksucht, des Rauschgiftes und wüster
Orgien und wider alle politischen und religiösen Querelen erwacht ihre erste
zarte Sehnsucht. Ulrike Krumbiegels Teresa hat die schöne gutgläubige Sprödigkeit
einer streng Erzogenen, doch ihre Zärtlichkeit erscheint mir zu rauh, ohne den
innigen Zauber erster großer Liebe. Auch Tobias Langhoff, dem der unbescholtene,
treuherzige und naive Leslie gut gelingt, bleibt hier zu verhalten. Die alle
Vorurteile stürmisch besiegende Leidenschaft dieses jungen Paares wirkt mir zu
selbstverständlich, zu alltäglich. So drastisch die Regie das anachronistische
Gebaren des „Musjö" und seiner Anhänger verspottet, so kräftig hätten
andererseits existentielle Not und Lust der jungen Leute ins Spiel gebracht
werden können.
Sich überschlagende Hektik am Ende. Teresa
hat die Polizei alarmiert. Der salbadernde Mr. Mulleady, seine Freundin Gilchrist
und Prinzessin Grazia entpuppen sich als Kriminalpolizisten. Sie räumen
gewaltsam auf. Ihr sinnloses Opfer der Schießerei ist Leslie. So kippt das
Bühnengaudi plötzlich weg zu einem Trauerspiel. Aber die trunkene Phantasie
Behans ruft Leslie sofort wieder an die Rampe — zum pralles Leben verkündenden
und herausfordernden Schlußchor.
Mehrfach Szenenbeifall unterwegs. Herzlicher
Applaus dann für einen Theaterabend bewegender Schauspielkunst.
Neues
Deutschland, 13. April 1989