„Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda“ von Bertolt Brecht am
Renaissance-Theater Berlin, Regie Piet Drescher
Maul halten für den Arbeitsplatz
Zuweilen ist die Aufführung eines unvollkommenen, vergessenen Stückes
ein echter Gewinn. Von solch erfreulichem Fall ist jetzt aus dem Berliner
Renaissance-Theater zu berichten. Dort hat Regisseur Piet Dresdner -
erfolgreich am Hause mit Enzensbergers
»Voltaires Neffe« - das aus den Jahren 1936/37 stammende Brecht-Fragment »Das
wirkliche Leben des Jakob Gehherda oder Träume eines Dutzendmenschen« in einer
ergötzenden Inszenierung auf die Bühne gebracht.
Warum das Werk, 1983 von Peter Palitzsch am Düsseldorfer
Schauspielhaus uraufgeführt, Fragment geblieben ist, hat Brecht nie
beantwortet. Seine Biographen erwähnen es kaum, und wenn, dann rügen sie
mangelnde Konzentration. Aber es ist, wie sich herausstellt, »in einer
haltbaren Sprache« (Brecht) gefertigt. Der Dichter hatte sich im dänischen Exil
vorgenommen, »mehr oder weniger auf Vorrat« zu schreiben. »Die Arbeit muß also
aus möglichst dauerhaftem Material bestehen.« Wovon man sich jetzt überzeugen
kann. Der Reiz des Stückes aus Brechts Vorrat besteht sogar in dessen Unfertigkeit,
in der naiv-unbekümmerten Mischung von saloppem Umgang mit Wirklichkeit und kritischer
Aufhellung ihrer - übrigens noch heute typischen - sozialen Konfliktstruktur.
Der »Dutzendmensch« Jakob Gehherda arbeitet als »zweiter
Kellner« in einer in schwierigen Zeiten heruntergekommenen Gastwirtschaft.
Wobei, wenn man es recht bedenkt, von Brecht nicht nur eine miese Kneipe
irgendwo an der Spree oder in Florida gemeint sein kann, sondern auch ein
krisengeschüttelter Staat, dessen Durchschnittsbürger mit Ach und Krach durchs
Leben kommen. Gehherda schafft es gerade noch, weil er sich demütig anpaßt und
für seinen Arbeitsplatz konsequent das Maul hält. Aber immerhin träumt er
davon, sich nicht feige wegzuducken. Tapfer sagt er im Traum die Wahrheit, daß
z.B. rüde aufdringliche junge Gäste eines Segelklubs das Abwaschmädchen Sylvia
(Fritzi Haberlandt) belästigten. Er schwingt sich sogar zu ihrem Retter auf,
sorgt als »schwarzer Ritter« für Gerechtigkeit. Damit nicht genug! Brecht,
dieser dialektische Fuchs, assoziiert, daß »Dutzendmensch« Gehherda leider auch
das Zeug in sich hat, über Nacht ein kleiner Hitler zu werden, der
beispielsweise die Frau Lange, die Köchin (Heike Jonca), tyrannisiert.
Die bizarr-phantastischen wie die alltäglich-realen
Vorgänge inszenierte Piet Drescher im Bühnenbild Helmut Stürmers mit viel Herz,
klarem Kopf und lockerer Hand fabeldienlich präzis und im Detail gut differenziert.
Der Abend wird nie vordergründig didaktisch, bleibt durchgängig vergnüglich, ein
fröhlich hintergründiges Spektakel mit dem Flair der Dreigroschenoper. Für
intelligenten, zugleich zauberhaft naiven Spaß sorgen auch die Songs, die
musikalischen Ensembles und die Chöre, von Uwe Lohse komponiert, in ihrer
sarkastisch-spritzigen Art an Kurt Weill oder Hanns Eisler erinnernd.
Im Mittelpunkt Matthias Günther als Gehherda. Der
hochsensible Schauspieler, prädestiniert für empfindsame Innerlichkeit, führt
ein armes, gebeuteltes Wesen vor, das sich quält, weil es sich nicht wohlfühlt
in einer Haut, die die Umstände derb gegerbt haben. Aus eingefallenen, dunklen
Höhlen blitzen scheu muntere Äuglein, künden von wacher Sehnsucht nach einem
besseren Leben.
Für den rundum gelungenen Abend zur Premiere stürmischer Beifall.
Neues
Deutschland, 30. September 1997