„Die Galizianerin“ von Brigitte
Schwaiger in der Freien Volksbühne Berlin, Regie Ingrid Hammer
Tiefenenttrümmerung des Bewußtseins
Ein Bett in der Kassenhalle der Berliner Freien Volksbühne. Darin eine kränkelnde Frau, etwas fiebrig scheint es, aber noch mobil. Das Haar hängt ihr zottelig ins Gesicht, auf der Nase sitzt eine große Brille. Die Frau zupft an ihrer Strickjacke, spielt etwas nervös mit einem Taschentuch und spricht, als wäre der Zuschauer bei ihr zum Krankenbesuch. Sie erzählt aus ihrem Leben: die Odyssee einer Jüdin.
Es ist dies die deutsche Erstaufführung eines
Berichtes, den die 1949 geborene österreichische Schriftstellerin Brigitte
Schwaiger unter dem Titel „Die Galizianerin" aufschrieb und den ihr die
sechzigjährige Jüdin Chawa Fränkel gegeben hatte. Erinnerungen an eine Jugendzeit
unter faschistischer Besatzung in Galizien. Sorge um die Mutter, die
Geschwister. Ewige Flucht vor der SS. Angst. Immer wieder Angst. Und zugleich
trotzige, gewitzte, ansteckende Überlebenskraft, Weisheit, Güte.
Wie die Schauspielerin Peggy Lukac (Regie:
Ingrid Hammer) diese Frau charakterisiert, ist von ungewöhnlicher Faszination.
Selten habe ich eine monologisierende Einzeldarstellung von solch geistiger
Spannung und Eindringlichkeit erlebt. Gewiß ist die mundartliche Perfektion der
Lukac ein besonderer Reiz. Aber die eigentliche Bezauberung geht aus von der außerordentlichen
Empfindsamkeit dieser Frau, von der bestrickenden Art, wie sie Erinnerung lebt,
Bilder entstehen läßt und leidenschaftlich oder behutsam und immer auch ein wenig
bauernschlau urteilt. Das ist ein Ereignis.
Peggy Lukac und Ingrid Hammer gehören
zur Künstlergruppe „Tiefenenttrümmerung", deren Absicht ist, mit ihrem
Wirken die Themen Faschismus und Zweiter Weltkrieg im Bewußtsein der
Gesellschaft wach zu halten. Hier geschieht es rational wie emotional sehr überzeugend.
Anhaltender, herzlicher Beifall.
Neues
Deutschland, 1./2. Dezember 1990