„Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht am Schauspielhaus Leipzig, Regie Joachim           Tenschert

 

 

Brecht im Repertoire

 

Hier ist zuvörderst vom Bühnenbild zu sprechen. Der originelle ästhetische Reiz,  der von  ihm  ausgeht,  bestimmt wesentlich die geistige Durchsichtigkeit und den Schauwert dieser Inszenierung. Nicht  Düsterheit  und  ideelle wie ma­terielle Beschränktheit klerikal-mittel­alterlicher Zeitläufe sucht der Leipziger Bühnenbildner Bernhard Schröter zu vermitteln, sondern die klare Helligkeit heraufkommend neuer Zeit. Da sind Anregungen des bildnerischen Schaffens italienischer Meister jener Jahrhunderte zu spüren, von Lorenzo di Credi etwa oder Vittore Carpaccio (Hieronymus im Stu­dierzimmer), auch scheint die Kirche S. Miniato in Florenz mit ihrer eigenwilligen Dachzone und der Nüchternheit ihrer geometrisch-rechteckigen Baustruktur Pate gestanden zu haben. Mit astrono­mischen und   geometrischen Figuren sowie architektonischen und allego­rischen Zeichnungen ausgestattete Hän­ger ergeben eine raumvielfältige, durch Podest leicht angehobene Spielfläche, stets Ausblick gewährend auf den in zartem Hellblau gehaltenen Rundhori­zont, der nicht Enge, sondern Weite und Möglichkeiten der neuen Zeit signalisiert. Perspektivische Lösungen der histo­rischen italienischen Winkelrahmen­bühne scheinen anzuklingen, zugleich ist da eine gewisse Flächigkeit des Raumes, ein Nebeneinander antiker Skene-Front. Die Vielgestaltigkeit dieses Bühnenbildes ist auf zauberhaft untheatralische Weise dennoch ganz theatralisch, modern, ein­fach, überschaubar und in seiner dezen­ten    Farbgebung hinter klassischem Brecht-Vorhang eine Schaubühne, die zu gestisch klarem   und übersichtlichem Spiel geradezu herausfordert.

Regisseur Joachim Tenschert — be­herzigend Bertolt Brechts These, das Theater mache »die praktikablen Ab­bildungen der Gesellschaft...ganz und gar als ein Spiel« — führt das Leipziger Ensemble auf dieser Schaubühne zu bemerkenswert geschlossenem Spiel. Er teilt die klug gestraffte Fabel des Stückes mit als eine gegliederte Gesamtkomposi­tion von Vorgängen, nicht nüchtern auf die Struktur zurückgenommen, vielmehr den sinnlichen Reichtum mit Akribie suchend und in plastischer Gegenständlichkeit sinnfällig machend. Er hat in Günter Grabbert einen Darsteller des Galilei, der die Jahrzehnte des Wirkens, des Optimismus und der Tragik des großen Gelehrten mit bemerkenswertem Sinn für mitteilsame szenische Vorgänge und Haltungswechsel, für Akzente trieb­hafter Leidenschaft wie rationaler Beses­senheit höchst anschaulich und nachvoll­ziehbar spielt.

Jung wirkend, drangvoll und unge­stüm, mit sieghafter, zuversichtlicher Heiterkeit erläutert dieser Galilei seinem Schüler Andrea die neuen Welterkennt­nisse. Geradezu mit Cleverness reagiert er auf die Nachricht von der Erfindung des Fernrohrs, schickt er nach Linsen, als sei es eine Nebensache, und doch mit der Geste angespannter Erwartung und Neu­gier. Geht es ums Geld, das er vergebens von Priuli erwartet, verliert er an Straff­heit,   deutet sich erste Müdigkeit an, Verzagtheit angesichts der unwürdigen und beleidigenden Querelen. Aber die Entdeckungen, die er mit dem Fernrohr macht, geben ihm Zuversicht und Kraft zurück. Grabbert spielt nun deutlich den weltfremden Wissenschaftler, dessen Selbstsicherheit im Glauben an die Vernunft angesichts der unwiderleg­baren   Forschungsergebnisse. Hartnäckig, fast pfiffig entzieht er sich der Argumente und   Vorhaltungen seines Freundes Sagredo. Den Disput am Flo­rentiner Hof führt er mit Selbstvertrauen, und fast ist er verwundert über sich selbst, sich plötzlich katzbuckelnd und untertänig Fürsten und Gefolge hinter­herlaufen zu sehen. Im Collegium Romanum harrt  er erneut selbstsicher der Entscheidung. Noch ohne Arg, doch hellhörig argumentiert er, wenn ihn die Kardinale Barbarini und Bellarmin ins demaskierte Gebet nehmen. Im Gespräch mit dem kleinen Mönch schließlich werden ihm soziale Zusammenhänge klar, begreift er, daß es der Obrigkeit eigentlich um die Bauern geht, darum, daß die Bauern ihre maßlose Unterdrückung auch fürderhin erdulden. Die­ser wissende Galilei trägt schwer am auferlegten Zwang, das Fernrohr nicht mehr zum Himmel zu richten, weil er ahnt, intuitiv erfaßt, daß  damit auch Irdisches erkennendem und verände­rungswilligem Blick entzogen ist. So treffen ihn Kerkerhaft und Prozeß hart. Der Auftritt Galileis nach dem Widerruf wird zum eindrucksvollsten des Abends. Fast erblindet jetzt, stapft er schwanken­den Schrittes herbei. Er hat die Instrumente zwar nur gesehen, aber sie haben ihm körperliche Pein bereitet. Tief und trotzig vergräbt er die Hände in den Hosentaschen, fast schnodderig tritt er heran, ringt er sich eine aufrechte Haltung ab, schuldbewußt, innerlich protestie­rend gegen sich selbst, gegen den vollzogenen Verrat, sich zugleich burschi­kos abschirmend gegen den Vorwurf seiner verzweifelten jungen Mitarbeiter, gemischt auch mit der Bitternis der Lebensklugheit des Erfahreneren, Älte­ren. In sarkastisch-bissigem Galgen­humor verschränkt er die Arme, als sein Widerruf ertönt, lauscht er grimmig­neugierig auf das, was da von ihm in der Stadt verkündet wird. Noch einmal flackern Witz und Pfiffigkeit des Galilei auf, als er Andrea die Discorsi aus­händigt. Wenn er endlich sich selbst anklagt und Gericht hält über die Verant­wortung des Wissenschaftlers, geschieht es aus abgeklärter Resignation, bäumt er sich nicht auf im Versuch, sich mittels der eigenen Verurteilung als Tribun zu gebär­den. So wird der Zuschauer in dieser Szene nicht zur Identifikation mit der Figur verleitet. Er empfindet die Tragik des historischen Galilei und sieht sich angehalten, die Problematik der Verant­wortung des Wissenschaftlers vor der Gesellschaft unter heutigen Bedingun­gen selbst zu Ende zu denken.

Marylu Poolman gibt die Frau Sarti, direkt, geradlinig, mit gesunder Kraft. Bemerkenswert der Sarti Aufbegehren gegen Galilei, als dieser der Wissenschaft zuliebe das Glück seiner Tochter opfert. Da tritt sie so herzhaft engagiert auf, daß eine Intimität mit Galilei spürbar wird, aus der heraus sie sich offenbar ihre Konse­quenz erlaubt. Werner Godemann spielt den Priuli als einen in Pflichterfüllung fungierenden Kurator, der geschäftig­geflissentlich und ein wenig unbeteiligt die Verhandlungen führt, der leidigen Dispute mit Galilei von Herzen überdrüs­sig. Ingrid Hilles Virginia ist von brav­scheuer Natürlichkeit, kaum bigott in ihrem Glauben, eher alltäglich-naiv, an­sonsten ein appetitliches junges Persönchen und insofern eine begehrens­werte Partie für den reichen Ludovico Marsili (Georg Solga). Die zur Jungfer verurteilte Virginia stellt sich wesentlich über die betont strenge Kleidung her.

Den Kardinal Inquisitor gibt Gert Gütschow. Die kalte Intellektualität dieser Figur versieht er mit wenigen Zügen leutseliger Biederkeit und leicht jovialer Verbindlichkeit, damit die dogmatische Starrheit der Gestalt ein wenig mildernd. Auch setzt er die Haltung gegenüber Virginia nicht deutlich von der Haltung gegenüber dem Papst ab. Die Attacke der Kardinale Barbarini und Bellarmin gegen Galilei scheint mir um Nuancen schärfer faßbar, schärfer im geistigen Zugriff, auch im Bloßstellen der Verlogenheit dieser Repräsentanten mittelalterlicher Obrigkeit, ohne die Figuren preiszugeben und vordergründig etwa nur diese oder jene ihrer Seiten zu zeigen. Der wider­sprüchlichen Vielschichtigkeit beider Figuren bleiben Manfred Zetzsche und Hans-Joachim Hegewald insofern einiges schuldig. Manfred Zetzsche (Barbarini) betont die saturierte und noch sehr stabile Machtbewußtheit, wovon die Figur des Papstes dann profitiert, Hans-Joachim Hegewald (Bellarmin) akzentuiert senil-blasierte, dekadente Züge der Herrschenden.

Das gesamte Leipziger Ensemble spielte mit offensichtlichem Engagement, und das Leipziger Publikum, zunächst zurückhaltend und etwas spröde, spendete schließlich viel Beifall.

Wenn Herbert Jhering 1946 in seiner Rede auf der Theatertagung in Weimar von Brechts »Leben des Galilei« sagte, »hier werden sowohl die Begriffe des Lehrstücks wie der epischen Chronik erweitert, durchstoßen und überwunden« und »klassische Haltung« angestrebt, dann kann dreißig Jahre später festgehalten werden, daß Regisseur Joachim Tenschert mit dem Leipziger Ensemble eine Spielweise für das Stück gefunden und praktiziert hat, welche die genannten Aspekte tangiert, aber zugleich und vor allem die poetische Botschaft des Dichters lebendig erhält und weitergeben hilft. Den Klassiker Brecht uns nicht klassizistisch zu entfremden, sondern in seiner klassischen geistigen Helligkeit nahe zu bringen, und zwar den Sinnen vergnüglich, Aufgabe aller unserer Theater, in Leipzig ist sie beispielhaft gelöst. Dank auch der Initiative des Generalintendanten Karl Kayser, einen unserer international ge­fragten Reise-Regisseure einmal wieder im Lande seßhaft gemacht zu haben.

 

 

Theater der Zeit, 7/1976