„Eine alte Frau brütet“ von Tadeusz Rózewicz am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Rolf Winkelgrund

 

 

 

Mit Scheuklappen auf dem Vulkan

 

Die Menschheit ist kaputt. Welch ungeschminktes Wort von der Bühne. Gesprochen im Maxim Gorki Theater. Geschrieben vom polnischen Dramatiker Tadeusz Rózewicz. Mit seinem 1969 entstandenen Stück „Die alte Frau brütet" behauptet er lapidar: Der Mensch, per historischem Zufall vom Affen zu einem vernunftbegabten Wesen avanciert, ist wider alle Vernunft im Begriff, seine Lebenswelt ganz und gar zu zerstören.

Zu solcher Aussage, zu assoziationsreichem, zwar verschlüsseltem, aber letztlich entlarvend realistischem Spiel fügt der 1921 geborene Dramatiker beredte Symbole und scheinbare Absurditäten. Sein Stück bedrückt. Es beunruhigt. Es warnt. Es zielt - adäquat inszeniert - auf ein hellhöriges Publikum.

Regisseur Rolf Winkelgrund kennt sich aus mit diesem Autor. Er hat 1975 am Potsdamer Hans-Otto-Theater dessen „Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung" und 1980 „Der Hungerkünstler geht" herausgebracht. Am Deutschen Theater zeigte er 1981 „Die weiße Ehe" und am Maxim Gorki Theater 1985 „Die Falle". Winkelgrund versteht es, Rózewiczs Intentionen sinnfällig zu machen.

Einprägsame Bilder (Ausstattung Henning Schaller). In einem Bahnhofsrestaurant müssen die Fenster geschlossen gehalten werden, weil sonst sich davor türmender Papiermüll hereinfällt. Als die alte Frau, die zu Gast ist, frische Luft haben möchte und öffnet, stürzt der Unrat herein. So entsteht ein Schuttberg, auf dem die alte Frau sodann gleichsam thronend hockt. Ist sie Symbol für die Erde? Für die ewige, elementare, aber gefährdete Gebärfähigkeit des Weibes? Viele Fragen.

Seit 50 Jahren jedenfalls ist die alte Frau unfruchtbar. Jetzt will sie gebären. Im Bahnhofsrestaurant hat sie es sich von dem beflissenen Kellner besorgen lassen. Er muß in den Krieg ziehen, will nicht sterben, kommt dennoch um und wird würdelos verscharrt.

Unablässig kippen Müllmänner Abfall herbei. Tote sind darunter. Niemand kümmert das. Im Gegenteil. Auf dem Schutt- und Leichenberg liegen drei Schöne im Badeanzug und sonnen sich. Im Vordergrund pausieren Straßenfeger. Ein eitler Baron wird frisiert. Über Dreck und Gebeine schreiten Delegierte diverser Kongresse und reden Bla-Bla. Einem jungen Mann verbietet ein Ordnungshüter, Bonbonpapier wegzuwerfen. Die Alte hat unterdessen einen Fuß ausgebrütet, ein Bein. Vermag sie keinen Menschen mehr zu gebären? Jeder kann eigene Antworten suchen.

Doch wie auch immer. Aus dem Mosaik erschließt sich: Der Mensch lebt auf einem Vulkan, aber er nimmt es gar nicht wahr. Er ist längst - und die einschlägige Presse weiß dies ständig neu zu besorgen - zu einem Individuum manipuliert, das nur Belanglosigkeiten wichtig nimmt. Und Umweltbedrohungen, Kriegsgefahren ignoriert.

Symptome. Über Ursachen schweigt sich der Autor aus. Doch selbst diese Bestandsaufnahme ist bestürzend genug. Zumal die Gegenwart ständig Bestätigungen liefert. Und Theater, will es nicht ganz und gar ohnmächtig sein, sich nicht auf ästhetisierende Selbstbespiegelung zurückziehen, muß sich solchem Thema stellen.

Hier ist es gelungen, das Aberwitzige schauspielerisch überzeugend vorzuführen. Anne-Else Paetzold stellt mit Trippelschritten und körperlichem Gehabe die „brütende" Alte dar. Götz Schubert ist ein wendig-eleganter junger Kellner, Hilmar Baumann ein sich mit der Gesellschaft arrangierender Friseur. Glänzend ist Hansjürgen Hürrig als distinguierter Herr Baron. Uwe Kockisch gibt einen Blinden, Thomas Rühmann einen Arzt, Eckhart Strehle einen Ordnungshüter. Gundula Köster, Simone Witte und Ev-Katrin Köster agieren als sonnenhungrige Mädchen.

 

 

 

Neues Deutschland, 26. November 1991