„In weiter Ferne“ von Caryl Churchill an der Schaubühne
Berlin, Regie Falk Richter
Geschäft mit dem Tode
Als Höhepunkt des einstündigen surrealen Dramoletts »In
weiter Ferne« der Engländerin Caryl Churchill paradieren barfüßige, an den
Händen gefesselte Gefangene mit monströsen Hut-Kreationen vorm Publikum. Demütig
und gelassen laufen sie zur Mitte, posieren ein wenig und gehen ab. Obwohl der
Vorgang sich schnell erschöpft, sind's wohl so rund fünfzig Statisten, die in
der Berliner Schaubühne von Regisseur Falk Richter minutenlang über den
Laufsteg geschickt werden. Bleibt genügend Muse also zu überlegen, ob man die
ablaufende Assoziations-Schau als fantasievoll-fantastische Bühnen-Neuerung
oder eher als weiteren Schritt der freiwilligen Selbstauflösung des Theaters
registrieren sollte. Immerhin wird die 63-jährige Caryl Churchill, Hausautorin
des Londoner Royal Court Theatre, als »Grande Dame des britischen Dramas« und
als »socialist feminist playwrigth« gehandelt. Am besten wird's wohl sein, sich
gar nicht festzulegen und einfach feuilletonistisch darüber zu plaudern. Etwa
so wie die Autorin es macht, die die offenbare Endzeit dieser Gesellschaft als
unerträglichen Zustand empfindet, aber weder nach Zusammenhängen noch nach
Ursachen fragt, auch nicht nach dramaturgischer Logik, sondern die drauflos
fabuliert und bunt und bizarr mehr oder weniger durch die Blume sagt.
Joan, ein junges Mädchen, wird bei Tante Harper unfreiwillig Zeuge, wie
der Onkel nächtens einen Mann und Kinder böse schlägt. Es fließt Blut. Was Joan
natürlich beunruhigt. Sie vertraut sich der Tante an, und die redet ihr
irgendwelche Geschichten von Fliehenden ein, denen der Onkel angeblich hilft
und der nur ungern mögliche Verräter blutig quält. Joan, bei Jule Böwe
stimmlich ausdrucksarm ein naives, unschuldiges Kind, lässt sich von der Tante
beruhigen, die von Tina Engel, einem »Alt-Star« der Schaubühne, demonstrativ
als gütig-verständnisvolle Dame vorgeführt wird.
Der nächtliche Disput findet in einer pompös anmutenden Halle statt
(Bühne Katrin Hoffmann), was vermuten lässt, dass die große Welt und deren noch
größere Angelegenheiten gemeint sein könnten. Insofern überrascht, dass der gelegentlich
hintergründig durch Tier-Kinobilder aufgepeppte Raum nun als Werkstatt fungiert,
in der Hutmacherin Joan schick-monströse Kopfbedeckungen kreiert und froh ist,
diese Arbeit gefunden zu haben. Ihr Kollege, Todd geheißen und erfahren im
Beruf, bei Robert Beyer ein glatt-eleganter Aufmüpfer, ahnt schlimme Vorgänge
in der Firma und will tollkühn mit einem der Chefs sprechen. Die ganze Hut-Industrie,
befürchtet Joan klug, ist verkommen. Tatsächlich: Hier ist etwas faul im
Staate, zumindest in der Werkstatt. Die Hüte, die da produziert werden, sind eben
jene, mit denen dekoriert die Gefangenen zum Schafott marschieren. Vorspiegelung
von schönem Schein also, wo Böses sich abspielt. Geschäft mit dem Tode! Heben
wir unseren schlussfolgernden Gedanken mutig heraus aus dem surrealen
Assoziationsgefüge. Theater als Ahnung, als Vermutung, von der Regie ästhetisch
sauber etabliert.
Was abschließend dialogisiert wird - die Autorin ist auch
Hörspiel-Schreiberin -, ist absurd-hintersinnige Spekulation. Todd, den Joan so
liebt, dass sie ihre Arbeit verlassen und einen Fluss durchquert hat, Todd,
dieser elegante Hutmacher, entpuppt sich als krimineller Totschläger irgendeiner
anonymen Organisation, der auch die Tante angehört, und für die inzwischen
auch Joan gemordet hat! Wobei das wirklich Neue ist, dass sogar Rehe und sonstige
Tiere sich parteiisch auf die eine oder andere Seite schlagen! Ja, man weiß nicht
einmal, auf wessen Seite der Fluss steht! Aber Joan weiß immerhin, dass er in
der Mitte reißend braun dahinfließt. Wozu der Zuschauer eine Assoziation haben
kann, aber nicht muss. Alles fließt. Auch in der Dramatik.
Neues Deutschland, 23. April 2001